„Genug!“, donnerte Napoleone. „Luciano, das ist Mademoiselle Seurant. Sie wird für die Zeit ihres Aufenthaltes unser Gast sein!“ Er hatte mit ruhiger Stimme gesprochen und strahlte eine Autorität aus, die keinen Widerspruch duldete. Luciano ballte die Hände zu Fäusten und blickte zu seiner Mutter, die leicht mit dem Kopf nickte. Ohne ein weiteres Wort stapfte er zu seinem Platz und begann, sich essen aufzutun.
Die Kinder tuscheln und grinsten, als ob ihnen diese Art Szene nicht fremd wäre. Das war also Luciano, der spätere Lucien. Der einzige von Napoleones Geschwistern, der nicht seinen Befehlen und Wünschen gehorchen würde. Sie würden im Streit auseinandergehen und sich nicht wieder versöhnen. Mit Sicherheit hatte er absichtlich Französisch gesprochen, damit ich ihn verstand. Die einigermaßen entspannte Stimmung war dahin.
Napoleone erzählte seine Geschichte zu Ende und löste die Tafel auf. Seine Mutter brachte die Kinder zu Bett, Fesch verabschiedete sich höflich und Luciano ging ohne ein weiteres Wort.
Unter einem herzlichen Willkommen stellte ich mir etwas anderes vor. Ich blickte zu Napoleone. Er lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück und lächelte mich an. „Mama hat ein Zimmer für dich herrichten lassen und erwartet, dass ich dich jetzt dorthin bringe.“ Er grinste verlegen. „Ich habe es ihr versprochen.“
Meine Stimmung sank. Also wieder keine Zweisamkeit. Was machte dieser ganze Traum dann für einen Sinn? Napoleones Hand fuhr unter mein Kinn und hob meinen Kopf an. „Wenn es nach mir ginge“, flüsterte er heiser, „würdest du nicht alleine in diesem Zimmer übernachten.“ Er ließ die Hand sinken. Meine Haut kribbelte an der Stelle, an der seine Finger sie berührt hatten. Er stand auf und merkte auf halbem Weg zur Tür, dass ich ihm nicht folgte. „Kommst du?“
Zu meiner eigenen Überraschung trugen mich meine Beine und ich folgte ihm bis ins oberste Stockwerk des Hauses. Würde er mich jetzt küssen? Er hatte mich gefragt, ob ich seine Frau werden würde und diese Andeutung gemacht. Völlig in Gedanken vertieft, bemerkte ich nicht, dass er nicht mehr lief und prallte gegen ihn.
„Entschuldigung.“ Meine Kehle schien plötzlich trocken und der Flur sehr eng zu sein. Schwungvoll öffnete Napoleone die Tür und mein Blick fiel auf ein einfach eingerichtetes Schlafzimmer. Ein schmales Metallbett, ein Tisch, auf dem eine Waschschüssel stand, ein Stuhl und ein Nachttopf in der Ecke.
Napoleone schüttelte missbilligend den Kopf. „Wir haben schönere Zimmer als dieses. Aber so lange du nicht einwilligst, meine Frau zu werden, kann ich Mama gegenüber nicht mehr durchsetzen.“
Sollte das ein Druckmittel sein? Wollte er mich zu einer Antwort zwingen?
Er schien meine Gedanken zu ahnen, denn er sagte schnell: „Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Niemand will dich zu etwas zwingen, es ist ...“ Er fluchte und im nächsten Moment war er mir ganz nah. „Ich hätte gerne mehr von dir als diesen gestohlenen Kuss.“
Seine Zunge suchte sich sehnsüchtig ihren Weg. Ich öffnet die Lippen und hieß ihn willkommen. Seine Hände glitten meinen Rücken hinab und wieder hinauf. Ich presste mich enger an ihn. Das hatte ich ersehnt und es war besser, als ich es mir vorgestellt hatte. Er sollte nicht aufhören, er sollte ...
Mit einem tiefen Seufzer löste er sich von mir. „Wenn du mehr willst, musst du 'ja' sagen!“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ mich alleine im Zimmer zurück.
Mein Herz pochte bis zum Hals und ich ließ mich auf Bett sinken. Was hatte ich erwartet? Dass er über mich herfallen würde? Ein angenehmer Schauer durchzuckte mich. Ich wäre nicht abgeneigt gewesen.
Ein lautes Klopfen an der Tür unterbrach meine Grübeleien. Kam Napoleone zurück? In Windeseile öffnete ich die Tür. Mein strahlendes Lächeln gefror! Da stand nicht Napoleone, sondern Lucien!
„Darf ich eintreten, Madamoiselle?“
Völlig verdattert ließ ich ihn ein. Er war größer als sein Bruder, aber von ähnlich schmalem Körperbau. Das dunkle Haar trug er im Nacken zu einem Zopf gebunden und seine braunen Augen musterten mich kalt. Ohne Umschweife begann er zu sprechen: „Ich habe Euch für morgen eine Passage nach Frankreich gebucht. Hier sind die Papiere und Geld. Nehmt es und verschwindet!“ Er warf ein Bündel Papiere auf den Tisch. „Das Schiff läuft im Morgengrauen aus. Es besteht keine Notwendigkeit, meinen Bruder noch einmal zu belästigen.“
Es hatte mir tatsächlich die Sprache verschlagen. Da stand dieser knapp sechzehnjährige Junge vor mir und bot mir Geld dafür, dass ich seinen Bruder verließ. Ich atmete tief ein und Blickte ihn ruhig an. „Nein!“
Seine Augen verengten sich. „Ihr werdet Napoleone in Ruhe lassen. Ich weiß nicht, was Ihr mit ihm gemacht habt. Was ich weiß ist, dass er eine wie Euch unter normalen Umständen keines Blickes würdigen würde.“
Eine wie mich?
Er drückte die Schultern durch. „Nehmt das Geld. Es ist mehr als genug, um die nächsten Jahre gut leben zu können. Das ist es doch, was Ihr wollt! Dafür braucht Ihr meinen Bruder nicht.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das Zimmer.
Ich blinzelte mehrmals und griff schließlich nach dem Bündel, das er auf den Tisch geschmissen hatte. Es enthielt Assignaten im Wert von 1000 Livres und eine Passage auf einer Fähre.
Verwundert ließ ich mich auf einen Stuhl sinken. Wie sollte ich das denn jetzt bitte verstehen? Mein Blick glitt zu dem kleinen Fenster des Raums und was ich da sah, verschlug mir die Sprache. Die Stunden vergingen im Zeitraffer. Binnen Sekunden zog der Mond an meinem Fenster vorbei und die Sonne ging auf. Schon klopfte es wieder an meine Tür. Diesmal fragte ich zaghaft: „Ja?“
Zu meiner Erleichterung war es Napoleone, der antwortete: „Möchtest du einen Ausflug machen?“
Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Und ob ich das wollte! Weg von diesem Haus und dieser Familie! „Komm rein, ich bin gleich fertig!“
Schnell füllte ich etwas Wasser in die Waschschüssel und fuhr mir mit den Händen durchs Gesicht. Aus den Augenwinkeln sah ich Napoleone eintreten.
Er lächelte mich an und erstarrte im nächsten Moment. „Was ist das?“ Schnell griff er nach den Papieren auf dem Tisch.
Verdammt! Ich hätte sie nicht offen herumliegen lassen sollen! Aber ich hatte ja gar keine Zeit gehabt, sie wegzuräumen.
„Du hast eine Passage gebucht? Für heute?“ Er sprach mit unterdrücktem Zorn.
„Nein, habe ich nicht!“
„Ach nein? Und was ist das?“ Er wedelte mit dem Papier in meine Richtung.
„Eine Passage! Die ich nicht gekauft habe!“
Eine unruhige Handbewegung sollte mich zum Weitersprechen bringen.
„Luciano hat sie mir gegeben“, flüsterte ich und blickte zu Boden.
„Luciano?“ Napoleone begann, nachdenklich im Raum auf und ab zu gehen.
„Ja. Er kam gestern Abend und hat deutlich gemacht, dass ich dich und die Insel verlassen soll – wenn nötig für Geld.“ Mein Blick fiel auf die Assignaten.
Napoleones СКАЧАТЬ