Название: Nietzsche aus Frankreich
Автор: Jacques Derrida
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783863936082
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Ist das Dasein noch eines Gottes fähig, fragt Heidegger. Und diese Frage stellt sich ebenso im biographischen Kontext dessen, der zum ersten Mal den Satz: Gott ist tot als eine Botschaft verkündet hat, die sich im Kontext der Ereignisse und des Denkens der gegenwärtigen Epoche ergibt.
Am Vorabend seines Zusammenbruchs in Turin erwacht Nietzsche mit dem Gefühl, zugleich Dionysos und Christus zu sein, und er signiert mit dem einen oder dem anderen Namen verschiedene Briefe, die er an Strindberg, an Burckhardt und andere sendet.
Bis zu diesem Augenblick war nur von einem Gegensatz zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten die Rede: – Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten… Und nun, da Professor Nietzsche untergegangen ist, oder besser, da er endlich alle Grenzen zwischen Außen und Innen niedergerissen hat, wird von ihm erklärt, daß zwei Götter in ihm wohnen. Setzen wir alle pathologischen Erklärungsversuche beiseite und nehmen wir diese Signaturen als ein gültiges Urteil über das, was den ihm eigenen Begriff des Daseins ausmacht. Die Substitution von Nietzsches Namen durch die zweier Götter rührt unmittelbar an das Problem der Identität der Person in Beziehung auf einen einzigen Gott, der die Wahrheit ist, und auf mehrere Götter, sofern sie einerseits eine Auslegung des Seins, andrerseits ein Ausdruck der Pluralität in einem und dem selben Individuum sind.
Er hält also am Bild Christi fest – oder, wie er selbst schreibt, an dem des Gekreuzigten, dem erhabenen Symbol, das für ihn das unverzichtbare Gegenbild des Dionysos bleibt; die zwei Namen des Gekreuzigten und des Dionysos halten dabei durch ihren Widerstreit das Gleichgewicht.
Wir kommen hier, wie man sieht, auf das Problem des nicht mitteilbaren Authentischen zurück und auch Karl Löwith stellt in diesem Zusammenhang in seinem bedeutenden Werk über die ewige Wiederkehr die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Nietzsches Lehre: im Falle er nicht Dionysos ist, bricht sein gesamtes Gebäude zusammen. Ich halte dagegen, daß Löwith nicht gesehen hat, in welchem Sinn das Gleichnisbild Rechenschaft vom Authentischen ablegen kann und in welchem nicht.
Wenn Nietzsche verkündet Gott ist tot, so bedeutet dies, daß mit Notwendigkeit Nietzsche seine eigene Identität verlieren muß. Denn was hier als ontologische Katastrophe dargestellt wird, entspricht exakt der Resorption der wahren und scheinbaren Welt durch die Fabel: in der Fabel gibt es nur noch eine Pluralität von Normen oder vielmehr überhaupt keine Norm im eigentlichen Sinn dieses Wortes, denn das Prinzip verantwortlicher Identität selbst ist darin völlig unbekannt, sofern das Dasein sich nicht in der Gestalt eines einzigen Gottes auslegt oder offenbart, der als Richter eines verantwortlichen Ich das Individuum einer mächtigen Pluralität entreißt.
Gott ist tot bedeutet nicht, daß die Gottheit aufhört, eine Auslegung des Daseins zu sein, vielmehr daß der absolute Garant der Identität des verantwortlichen Ich im Horizont von Nietzsches Bewußtsein verschwindet, von Nietzsche, der seinerseits sich mit diesem Verschwinden vermischt.
Wenn sich der Begriff der Identität verflüchtigt, bleibt vorerst, was auf das Bewußtsein zukommt, nur der Zufall. Bislang konnte es das Zufällige aufgrund seiner anscheinend notwendigen Identität anerkennen, nach deren Maß es alle Dinge in seinem Umkreis als notwendig oder zufällig beurteilen konnte.
Doch nachdem sich ihm das Zufällige als notwendige Wirkung eines universellen Gesetzes offenbart hat, des Glücksrads, kann es dazu kommen, daß es selbst sich als zufällig ansieht. Es bleibt ihm nur, zu erklären, daß seine Identität selbst ein Zufall sei, willkürlich für notwendig gehalten, frei, sich selbst als das universelle Glücksrad anzusehen, frei, die Totalität der Fälle, das Zufällige selbst in seiner notwendigen Totalität, wenn es kann, zu umfassen.
Was übrig bleibt, ist also das Sein und das Wort ›sein‹, das nie sich auf das Sein selbst, sondern auf das Zufällige bezieht. In Nietzsches Erklärung: Ich bin Chambige, ich bin Badinguet, ich bin Prado – jeder Name der Geschichte bin im Grunde ich –, wir sehen in dieser Erklärung das Bewußtsein verschiedene Möglichkeiten des Seins wie ebenso viele Lose aufzählen, die sämtlich das Sein wären, und sich dabei des augenblicklichen Gewinns bedienen, der Nietzsche heißt, der aber als Gewinn eben zugunsten einer generöseren Bezeugung des Seins abgedankt hat: zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen…, man muß Opfer bringen, wie und wo man lebt.
Das Dasein als ewige Wiederkehr aller Dinge erzeugt sich in den Gestalten so vieler Götter wie es Auslegungsmöglichkeiten in der Seele der Menschen hat. Wenn der Wille dieser dauernden Bewegung der Welt angehört, so ist es zuerst der Kreis der Götter, den er betrachtet. So heißt es im Zarathustra:
Die Welt ist als ewiges Sich-Fliehn und -Wiedersuchen vieler Götter, als das selige Sich-Widersprechen, Sich-Wieder-Hören, Sich-Wieder-Zugehören vieler Götter…
Ohne Zweifel ist die nietzscheanische Version des Polytheismus notwendigerweise von der antiken Frömmigkeit ebensoweit entfernt wie deren Begriff des göttlichen Zeugungstriebs der vielen Götter vom christlichen Begriff der Gottheit. Wovon aber diese »Version« Zeugnis ablegt, ist die Weigerung, einer atheistischen Moral zu gehorchen, die für Nietzsche nicht weniger unerträglich war als die monotheistische Moral und er konnte in der atheistischen und humanistischen Moral nichts anderes sehen als die Fortsetzung dessen, was er als die Tyrannei der einen und einzigen Wahrheit denunziert hatte – welches auch immer ihr Name war und ob sie sich nun als kategorischer Imperativ oder in der Gestalt eines ausschließlichen persönlichen Gottes darstellte. Und in der Tat erweist sich der Unglaube gegen einen einzigen und gesetzgebenden Gott, einen Gott, der die Wahrheit ist, als wahrhaft göttlich inspirierte Gottlosigkeit und verbietet jeden Rückzug der Vernunft hinter bloß menschliche Grenzen. Nietzsches Gottlosigkeit diskreditiert nicht bloß den vernünftigen Menschen, sondern macht sich noch zum Komplizen all der Phantasmen, welche als Reflexe dessen die Seele bevölkern, was der Mensch hat ausstoßen müssen, um zu einer rationalen Definition seiner Natur zu gelangen; nicht daß diese Gottlosigkeit auf die simple Entfesselung blinder Mächte aus wäre, wie man in der Nietzsche-Interpretation zu behaupten allgemein übereingekommen ist, denn er hat nichts gemein mit einem Vitalismus, der mit allen von der Kultur erarbeiteten Formen tabula rasa macht; Nietzsche ist der Antipode eines jeden Naturismus; und Nietzsches Gottlosigkeit erklärt sich selber für diese Kultur tributpflichtig; deshalb kann man in der Beschwörung des Zarathustra einen Appell zum Aufstand der Bilder vernehmen, derjenigen Bilder, die die menschliche Seele in ihren Phantasmen, im Kontakt der dunklen Kräfte in ihr, zu formen fähig ist; Phantasmen, die die für die Seele als Fähigkeit unerschöpflichen Metamorphosen zeugen, als ein universell ungestilltes Bedürfnis nach Gestaltung, worin die verschiedenen außermenschlichen Formen des Daseins sich der Seele als ebenso viele Möglichkeiten des Seins darbieten: Stein, Pflanze, Tier, Stern, sofern sie jeweils Möglichkeiten des Lebens der Seele selbst sind; dieselbe Fähigkeit zur Metamorphose, die unter der Herrschaft des ausschließlich normativen Prinzips die große Versuchung darstellt, gegen die der Mensch jahrtausendelang hat kämpfen müssen, um sich selbst zu definieren; nicht daß in diesem Kampf um die Selbstdefinition die Fähigkeit zur Metamorphose nicht selber zum Ausscheidungsprozeß, der im Menschen als seinem letzten Produkt gipfeln mußte, beigetragen hätte: der beste Beweis dafür ist die Aufhebung der Schranke zwischen Göttlichem und Menschlichem und die wunderbare Kompensation, durch die in dem Maße, wie der Mensch seiner Animalität, Vegetabilität, Mineralität entsagte, in dem Maße auch, wie er seine Begierden und Passionen nach immer variablen Kriterien hierarchisierte, eine analoge Hierarchie sich ihm in den СКАЧАТЬ