Nietzsche aus Frankreich. Jacques Derrida
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Название: Nietzsche aus Frankreich

Автор: Jacques Derrida

Издательство: Bookwire

Жанр: Философия

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isbn: 9783863936082

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СКАЧАТЬ einen Beweis zu legitimieren, den sie sich selber entweder auf dem Niveau des wissenschaftlich verifizierbaren Kosmos gibt oder auf der moralischen Ebene durch die Herausarbeitung eines Imperativs, der geeignet ist, dem Wollen durch die Beziehung auf den Willen zur Macht zu gebieten? Kommt es so zu den zweifelhaften Hinweisen auf die Naturwissenschaft, die Biologie, nachdem sich seine fundamentale Erfahrung bereits auf völlig andere Weise in der Gestalt des Zarathustra ausgesprochen hat? Möglicherweise finden wir darin einen der Begriffe der Alternative, einen Aspekt des Widerspruchs in Nietzsche: die Erfahrung der Ewigkeit des Ich im ekstatischen Augenblick der ewigen Wiederkehr aller Dinge kann ebensowenig Gegenstand eines Experiments wie einer rational konstruierten Erklärung sein; ebensowenig wie diese unerklärliche und also nicht mitteilbare Erfahrung sich als ethischer Imperativ aufstellen läßt, der aus dem Erlebten ein Gewolltes und Wiedergewolltes macht, da die universelle Bewegung der ewigen Wiederkehr den Willen unfehlbar dazu leiten soll, im gewollten Augenblick zu wollen: als eine Erfahrung und also vollständig einer Kontemplation einverleibt, in der sich der Wille gänzlich in der auf sich selbst bezogenen Existenz absorbiert. Und zwar so sehr, daß der Wille zur Macht bloß Attribut der Existenz ist, die sich selbst so will, wie sie ist. Daher auch der oft zweifelhafte Charakter all derjenigen Sätze in den Fragmenten zur Umwertung der Werte, in denen der Wille zur Macht unabhängig vom Gesetz der ewigenWiederkehr behandelt wird, unabhängig von dieser Offenbarung, von der er unablösbar ist. Auf der Ebene der Erfahrung bleibt Nietzsche hinter Zarathustra also zurück, ist bloß noch der Lehrer einer Gegenmoral, die sich offenkundig deutlich ausspricht und deren ganzes Ansehen sich dem wagemutigen Versuch verdankt, das bewußte Denken zugunsten dessen zu gebrauchen, was keinen Zweck hat. Lehrer vom Zwecke des Daseins, damit beschäftigt, seinen Rückzug in ein Gebiet zu decken, in das er sich tatsächlich schon zurückgezogen hat – in diese Unsterblichkeit, an der er, wie er mehr als einmal sagt, gestorben ist und aus der er einzig im Taumel des Wahnsinns wiederkehrt, um zu bekunden, was er unter zwei verschiedenen Namen ist: Dionysos und der Gekreuzigte.

      Nach dem Satz: Die Wahrheit ist ein notwendiger Irrtum, finden wir diesen anderen Satz: Die Kunst ist ein der Wahrheit übergeordneter Wert, der die Schlußfolgerung derjenigen enthält, in denen ausgesprochen ist, daß die Kunst uns davor bewahrt, uns in den Abgrund der Wahrheit zu stürzen oder die Kunst uns vor der Wahrheit schützt; all diese Sätze haben den selben pragmatischen Charakter wie der voraufgehende Satz, daß die Wahrheit ein notwendiger Irrtum ist; in ihnen wird alles unter der Perspektive der Zweckdienlichkeit betrachtet.

      Sofern indessen der Irrtum formenschaffend ist, muß die Kunst selbstverständlich dasjenige Reich sein, in dem der gewollte Irrtum eine Spielregel begründet: ebenso wie es widersprüchlich wäre, eine praktische Anwendung der Wahrheit als Irrtum zu versuchen, ebenso klar ist es, daß im Reich des Spiels par excellence, das die Kunst bewohnt, die Verstellung eine legitime Aktivität darstellt. Doch der Begriff der Kunst hat einen sehr weitgespannten Sinn und bei Nietzsche umfaßt ihre Kategorie ebenso die Institutionen wie die Werke einer zweckfreien Schöpfung. Zum Beispiel – und daran sehen wir sogleich, worauf das hinausläuft – zum Beispiel – als was hat Nietzsche die Kirche angesehen? Die Kirche besteht für ihn grosso modo aus einer Kaste frommer Falschmünzer: den Priestern. Sie ist das Hauptwerk geistiger Herrschaft und es bedurfte dieses unmöglichen Plebejers von Mönch, der Luther in seinen Augen ist, um glauben zu können, daß dieses Hauptwerk, das letzte Gebäude römischer Zivilisation unter uns, zerstört werden könnte. Die ganze Bewunderung, die Nietzsche der Kirche und dem Papsttum zugewandt hat, ruht auf dieser Annahme, daß die Wahrheit ein Irrtum und die Kunst, dieser gewollte Irrtum, der Wahrheit überlegen sei: deshalb auch betont Zarathustra seine Verwandtschaft mit dem Priester und deshalb ist im vierten Teil bei dieser außerordentlichen Versammlung der verschiedenen Höheren Menschen in Zarathustras Höhle der Papst, der letzte Papst, unter den Ehrengästen des Propheten. Dies, meine ich, verrät noch einmal die Versuchung Nietzsches, eine herrschende Kaste der großen Metapsychologen vorzusehen, welche die Geschicke der künftigen Menschheit in die Hand nehmen könnten, weil sie die verschiedenen Strebungen und die verschiedenen Mittel, sie zu befriedigen, vollkommen durchschauten. Doch was uns interessiert, ist ein bestimmtes Problem, das nie aufgehört hat, Nietzsche zu beschäftigen, das des Schauspielers. Im Aphorismus 361 der Fröhlichen Wissenschaft lesen wir: Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung mit Macht herausbrechend, den so genannten »Charakter« beiseite schiebend, überflutend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein Überschuß von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen wissen: alles das ist vielleicht nicht nur der Schauspieler an sich? …

      Halten wir fest, was Nietzsche hier hervorhebt: die Lust an der Verstellung mit Macht herausbrechend, den sogenannten »Charakter« beiseite schiebend, überflutend, mitunter auslöschend – in der Tat erkennen wir darin mit einem Schlag, was Nietzsche selber bedroht: zuerst die Verstellung, die mit Macht und als Macht herausbricht und den sogenannten »Charakter« überflutet, ihn mitunter auslöscht: was hier hervorsticht, ist der Gedanke, daß die Verstellung nicht nur Mittel, sondern selbst eine Macht ist, daß es also einen Einbruch von etwas mit dem Charakter Inkompatiblen gibt und deshalb eine Infragestellung dessen, was man ist, in einer Situation, die durch das Unbestimmbare selber bestimmt ist; gewiß schreibt Nietzsche ein Überschuß von Anpassungsfähigkeiten, doch ein Überschuß, so bemerkt er, welcher sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen weiß: insofern also ist das, was sich im Überschuß von Anpassungs-Fähigkeiten übersetzt, nichts andres als das Dasein selbst. Existenz ohne Zweck, Existenz, die sich selber genügt. Doch kehren wir noch einmal zur ersten Formulierung zurück: die Falschheit mit gutem Gewissen. Auch hierin der Begriff des gewollten Irrtums. Der gewollte Irrtum legt, nach Maßgabe des Scheins, Rechenschaft von der Existenz ab, deren Wesen die sich entziehende Wahrheit, die sich versagende Wahrheit ist.

      Das Dasein sucht ein Gesicht, um sich zu offenbaren; der Schauspieler ist sein Dolmetscher. Was offenbart das Dasein? Die Möglichkeit eines Gesichts: vielleicht das eines Gottes.

      In einer anderen seltsamen Passage der Fröhlichen Wissenschaft (Aphorismus 356) mit dem Titel Inwiefern es in Europa immer »künstlerischer« zugehn wird weist Nietzsche darauf hin, daß die Lebens-Fürsorge fast allen männlichen Europäern eine bestimmte Rolle, ihren sogenannten Beruf, aufzwingt; einigen bleibt dabei die Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den meisten wird sie gewählt. Das Ergebnis ist seltsam genug: fast alle verwechseln sich mit ihrer Rolle – sie selbst haben vergessen, wie sehr Zufall, Laune, Willkür damals über sie verfügt haben, als sich ihr »Beruf« entschiedund wie viele andre Rollen sie vielleicht hätten spielen können: denn es ist nunmehr zu spät! Tiefer angesehn, ist aus der Rolle wirklich Charakter geworden, aus der Kunst Natur. Der Abschnitt behandelt weiterhin den Niedergang der Gesellschaft, aber was ich hier festhalten will, ist dies: was hier als gesellschaftliches Phänomen beschrieben wird, erscheint in der Tat als Bild des Schicksals selbst und insbesondere von Nietzsches Schicksal. Man glaubt das, was man ist, frei zu wählen, aber tatsächlich wird man gezwungen, eine Rolle zu spielen und ist der nicht, der man ist; man ist gezwungen, die Rolle dessen zu spielen, der man außer sich ist. Man ist nie da, wo man ist, sondern immer nur da, wo man der Schauspieler jenes Andren ist, der man ist. Die Rolle stellt dabei den Zufall in der Notwendigkeit des Schicksals dar. Man kann nicht anders, als sich selber zu wollen, aber man kann nie etwas andres als eine Rolle wollen. Dies wissend, spielt man mit gutem Gewissen. So gut wie möglich spielen, heißt sich verstellen. Und so ist Baseler Philologie-Professor oder aber Autor des Zarathustra zu sein, bloß eine Rolle. Was man dahinter verbirgt ist, daß man bloß Dasein ist, und was man sich selber verbirgt ist, daß die Rolle, die man spielt, sich auf diejenige bezieht, welche das Dasein selber ist.

      Dies Problem des Schauspielers bei Nietzsche und des Einbruchs einer Macht in den sogenannten »Charakter«, den sie beiseite schiebt, überflutet und mitunter auslöscht –, dies Problem, sage ich, betrifft unmittelbar Nietzsches eigene Identität, СКАЧАТЬ