Название: BGB-Schuldrecht Allgemeiner Teil
Автор: Harm Peter Westermann
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Schwerpunkte Pflichtfach
isbn: 9783811453562
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Teil I Grundlagen › § 3 Schuldrechtliche Pflichten – Einteilung und Abgrenzungen › II. Schutzpflichten (§ 241 Abs. 2)
1. Begriff und Funktion
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Gem. § 241 Abs. 2 kann das Schuldverhältnis (im weiteren Sinne) „nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten.“ Solche Pflichten nennt man Schutzpflichten.[14] Anders als die in § 241 Abs. 1 geregelten Leistungspflichten zielen sie nicht auf einen bestimmten Erfolg oder die Vermögensmehrung des Gläubigers. Sie schützen ihn vielmehr in anderen Interessen und Rechten, so wie sie ganz unabhängig vom Leistungsaustausch bestehen. Der Gläubiger darf beispielsweise nicht in seinen Eigentumsrechten, in seiner körperlichen Integrität oder auch in seinen sonstigen Vermögensinteressen verletzt werden. Pflichten iSd § 241 Abs. 2 schützen in diesem Sinne das Integritätsinteresse des Gläubigers.
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Anders als die Leistungspflichten iSd § 241 Abs. 1 (einschließlich der Nebenleistungspflichten) sind Schutzpflichten iSd § 241 Abs. 2 nur unter bestimmten Voraussetzungen einklagbar.[15] Ihre Verletzung wird in erster Linie durch Schadensersatzansprüche sanktioniert (vgl § 280 Abs. 1 und §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 282). Schutzpflichtverletzungen können bei gegenseitigen Verträgen auch ein Rücktrittsrecht begründen (§ 324). Bei der eigenständigen Einklagbarkeit (etwa der Pflicht der Malermeisterin, mein Klavier nicht während des Streichens zu beschädigen) war die früher hM skeptisch: Nicht ausdrücklich geregelte Schutzpflichten wurden als nicht einklagbar angesehen.[16] Heute ist man zu Recht großzügiger: Schutzpflichten sind einklagbar, wenn eine Rechtsverletzung droht, die verletzte Pflicht inhaltlich hinreichend bestimmt ist und ein Schutzbedürfnis des Gläubigers besteht.[17]
2. Inhalt und Reichweite
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Inhalt und Reichweite konkreter Schutzpflichten ergeben sich aus dem jeweiligen Schuldverhältnis und den individuellen Umständen des Sachverhalts. Geleitet wird die Bestimmung von Schutzpflichten vom Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242). Bei Verträgen ist wiederum die (ergänzende) Vertragsauslegung (§§ 133, 157) ein wichtiges Begründungsinstrument. Die Begründung von Schutzpflichten lässt sich damit rechtfertigen, dass die Parteien durch das Schuldverhältnis in eine engere Verbindung zueinander getreten sind. Diese schuldrechtliche Sonderverbindung geht mit erhöhten Gefahren für die jeweiligen Rechte und Interessen der Parteien einher. Daher kann auch größere gegenseitige Rücksichtnahme eingefordert werden. Zugleich folgt daraus, dass es für die Intensität der jeweiligen Schutzpflichten auch auf die Intensität des jeweiligen Schuldverhältnisses ankommt: Bei langfristigen Bindungen (etwa bei Mietverträgen) sind weitergehende Schutzpflichten gerechtfertigt als bei punktuellen Austauschverträgen (etwa dem Kaufvertrag). Intensivere Schutzpflichten sind auch eher möglich, wenn ein Schuldverhältnis von persönlichen Pflichten geprägt ist (wie etwa bei Dienst- oder Werkverträgen).[18]
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Schutzpflichten können auf gegenseitige Fürsorge gerichtet sein, also beispielsweise darauf, Gefahren für Leben oder Gesundheit zu vermeiden.[19] Wer im Rahmen eines Schuldverhältnisses Sachen des anderen erhält, muss auf diese gut achten (Obhutspflichten): Wenn ich mein Fahrrad zur Reparatur gebe, muss die Werkstattinhaberin Sorge für mein Fahrrad tragen und darf es nicht etwa unverschlossen vor ihrer Werkstatt stehen lassen. Die Parteien können auch Aufklärungspflichten treffen, die jeweils andere Seite auf bestimmte Dinge hinzuweisen und über sie zu informieren. Unter welchen Voraussetzungen Aufklärungspflichten bestehen und welchen konkreten Inhalt sie haben, ist eine Frage des Einzelfalls und des jeweiligen ökonomischen Kontexts.[20] Die Interessenlage der Parteien, ihr jeweiliger Erfahrungsschatz, der ökonomische Hintergrund des Geschäfts und auch die Natur des Schuldverhältnisses sind relevant. So können Aufklärungspflichten eher bei Verträgen bestehen, in denen es (auch) um die Wahrung fremder Interessen geht (wie etwa dem Auftrag). Eine Partei kann auch wegen ihrer besonderen Fachkunde aufklärungspflichtig sein.
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Schutzpflichten können schon bestehen, bevor überhaupt ein Schuldverhältnis zustande gekommen ist. Das zeigt § 311 Abs. 2: Schutzpflichten aus § 241 Abs. 2 entstehen beispielsweise schon durch die Anbahnung eines Vertrages. Wenn A einen Klamottenladen betritt, treffen die Inhaberin des Ladens ihm gegenüber schon vor Vertragsschluss Schutzpflichten. Sie muss etwa den Boden rutschfrei und frei von Stolperfallen halten. Auch wenn die Leistungen ausgetauscht sind, können weiterhin Schutzpflichten bestehen: Etwa zur Warnung über Gefahren gekaufter Produkte. Solche Schutzpflichten nennt man auch nachwirkende Nebenpflichten oder nachwirkende Schutzpflichten. Zu ihnen gehören auch Pflichten zur Bereithaltung von Ersatzteilen oder zum Rückruf von Produkten.
So liegt es auch in Fall 9: Mit dem Austausch der Leistungen ist der Kaufvertrag vollzogen. Dennoch trifft V eine nachwirkende Schutzpflicht gegenüber K: Sie muss K darüber informieren, dass die von ihr gekauften Schuhe gesundheitsschädliche Substanzen enthalten. T wird ihr daher mitteilen, dass sie verpflichtet ist, K zu kontaktieren oder – wenn V keine Kontaktdaten besitzt – die Käufer durch öffentliche Bekanntmachung aufzuklären. Kommt V ihrer Schutzpflicht nicht nach, können hierdurch Ansprüche der K auf Schadensersatz aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 entstehen.
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Soeben haben wir gesehen: Schutzpflichten bestehen vom Vorfeld der Entstehung über die Vertragsdurchführung bis hin zu der Zeit danach. Manche postulieren daher ein eigenständiges gesetzliches Vertrauensschuldverhältnis als Grundlage der Schutzpflichten.[21] Andere differenzieren: Das Gesetz sei Entstehungsgrund für die Schutzpflichten vor Entstehung (§ 311 Abs. 2), danach ergäben sich die Schutzpflichten aus dem jeweiligen Schuldverhältnis (bei Verträgen also aus dem Vertrag).[22] Der Gesetzgeber der Schuldrechtsreform 2002 hat diese Frage bewusst offengelassen.[23] In der praktischen Rechtsanwendung sowie in Klausuren spielt die Antwort auf sie kaum eine Rolle. Die Grundlage von Schutzpflichten lässt sich schlicht aus gesetzlichen Normen begründen: Wenn ein Vertrag vorliegt, lassen sich aus diesem Vertrag in Verbindung mit § 157 sowie § 242 Schutzpflichten begründen. Vor Vertragsbegründung gibt § 241 Abs. 2 unproblematisch eine Grundlage für die Schutzpflichten. Bei nichtigen Verträgen kann § 311 Abs. 2 Nr 3 („ähnlicher geschäftlicher Kontakt“) herangezogen werden, um Schutzpflichten zu begründen.[24] Nach Einschätzung des Gesetzgebers können solche Pflichten trotz der Nichtigkeit eines Vertrages bestehen.[25] Beim nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis sind einzelne Rücksichtspflichten in der Rechtsprechung anerkannt, im Wesentlichen gelten aber die §§ 906 ff.[26]