Название: Beweisantragsrecht
Автор: Winfried Hassemer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Praxis der Strafverteidigung
isbn: 9783811448209
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(2) In den Verhandlungen vor den Schöffengerichten und vor den Landgerichten in der Berufungsinstanz, sofern die Verhandlung vor letzteren eine Übertretung betrifft oder auf erhobene Privatklage erfolgt, bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein.
Damit waren Beweisanträge, ihre abgestufte Wirkung und die Bedeutung präsenter Beweismittel anerkannt. Und für die Ablehnung eines Beweisantrags musste zumindest eine gewisse Förmlichkeit beachtet werden, – auch wenn das Gesetz für den zwingend vorgeschriebenen Beschluss und seine etwaige Begründung keine inhaltlichen Vorgaben enthielt.
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Eine solche Konstellation – Anordnung eines Verfahrens zur Ablehnung von Beweisanträgen ohne Enumeration der Gründe, welche eine Ablehnung rechtfertigen – ist eine gute Ausgangsbedingung für die Herausbildung von Richterrecht, sie ruft es geradezu herauf. Das Reichsgericht hat seine Chance genutzt. Dogmatisch verankert in dem Revisionsgrund, die Verteidigung sei durch die Ablehnung eines Beweisantrags unzulässig beschränkt worden (heute § 338 Nr. 8 StPO), haben die Senate schrittweise ein System (allein) zulässiger Ablehnungsgründe entworfen, welches dann später[4] in die StPO eingefügt werden konnte.
Die Geburt eines formalisierten Beweisantragsrechts lässt sich gleich im ersten Band der Amtlichen Sammlung des Reichsgerichts studieren.
Die Entscheidung des I. Strafsenats vom 12.1.1880[5] fußt noch auf der damals nicht in Frage gestellten Überzeugung, dass die Ablehnung eines Beweisantrags nur im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegen könne, lässt aber schon Schwierigkeiten mit der Regelung zur Beachtung präsenter Beweise erkennen:
„Allein nicht jede Ablehnung eines Beweisantrags über einen Punkt, der für die Entscheidung wesentlich sein kann, ist darum als unzulässige Beschränkung der Verteidigung anzuerkennen. Das trifft nicht nur dann zu, wenn der Antrag aus richtigen Rechtsgründen abgelehnt ist, sondern auch dann, wenn ihm ohne Rechtsirrtum für den konkreten Fall die Erheblichkeit abgesprochen ist. Dass über den Umfang der Beweisaufnahme das Gericht zu befinden und von ganz zwecklosen Erhebungen Umgang zu nehmen hat, liegt so sehr im Wesen einer gesunden Strafrechtspflege begründet, dass es einer ausdrücklichen Aufnahme dieses Grundsatzes in der Strafprozessordnung gar nicht bedurfte, er ist aber auch als in den §§ 219 und 243 Satz 2 enthalten anzusehen und im § 244 Satz 1 nur insoweit verlassen, dass die vorgeladenen Zeugen etc. regelmäßig sämtlich zu vernehmen sind, hinsichtlich der abgelehnten also dem Angeklagten nur die eigne Ladung offen gelassen ist, keineswegs nach § 245 Satz 1 ihm das Recht auf Aussetzung der Hauptverhandlung durch die Befreiung der Beweisanträge von bestimmten Prozessstadien ganz allgemein gewährleistet ist“ (S. 62).
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Kurze Zeit später gelingt dem II. Strafsenat in seinem Urteil vom 6.2.1880[6] die Begründung des Verbots der Beweisantizipation, welches später für die Konstruktion des Beweisantragsrechts von grundlegender Bedeutung werden sollte.[7] Das Schwurgericht hatte es abgelehnt, nach der Einvernahme eines Zeugen einen weiteren Zeugen zu befragen, welcher der Aussage des ersten Zeugen widersprechen würde. Der Senat präzisiert, dass das Schwurgericht damit die Aussage des ersten Zeugen für so überzeugend erachtete,
„dass eine davon abweichende Aussage des (zweiten Zeugen) keinen Glauben verdienen würde. So verstanden beruht jener Grund auf einem Rechtsirrtum, indem dabei außer Acht gelassen wird, dass – von Ausnahmefällen abgesehen, die dann stets einer besonderen Begründung bedürfen – regelmäßig erst nach der vor dem erkennenden Richter stattfindenden Vernehmung sich beurteilen lässt, welchem von zwei sich widersprechenden Zeugen mehr Glauben geschenkt werden kann“ (S. 190).
Damit war entschieden, dass dem Gericht vorgängige Bewertungen einer Beweisaufnahme verwehrt sind: dass es die Beweisaufnahme also erst einmal durchführen muss, bevor es ihren Beweiswert einschätzt. Der Senat hatte den ersten Pflock eingeschlagen, an welchen das Ermessen des Gerichts bei der Ablehnung von Beweisanträgen gebunden war, und er musste dazu argumentativ nicht weit ausholen; eine einfache Logik reichte hin: Eine Beweiserhebung darf nicht deshalb unterlassen werden, weil man ihr Ergebnis schon zu kennen glaubt.
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Die allmähliche Ausformung des Beweisantragsrechts durch die Rechtsprechung wurde von Gesetzesänderungen begleitet, welche dieses Recht zuerst begründeten und ausbauten, dann aber wieder beschnitten und während der Zeit des Zweiten Weltkrieges ganz beseitigten. Die wechselvolle Geschichte des Beweisantragsrechts zeigt, dass dieses Institut ein sensibler Indikator für Liberalität und Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens ist und dass seine mächtigsten Feinde in einer einseitigen Politik effektiver und funktionstüchtiger Strafrechtspflege, verbunden mit einer Geringschätzung von Beschuldigtenrechten, zu sehen sind.
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Das Gesetz zur Abänderung der StPO vom 22.12.1925[8] weitete das Beweisantragsrecht erheblich aus, indem es dem Gericht nur noch bei Privatklagesachen gestattete, den Umfang der Beweisaufnahme von sich aus zu bestimmen (§ 245 Abs. 2 StPO a.F.). Die erste Einschränkung[9] erfolgte bald und war nicht mehr als eine absehbare Randkorrektur: präsente Beweise durften abgelehnt werden, wenn sie der Prozessverschleppung dienten (§ 245 Abs. 1 Satz 1 StPO a.F.).
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Schon von ganz anderer Qualität war die Einschränkung des Beweisantragsrechts in der Verordnung des Reichspräsidenten auf dem Gebiete der Rechtspflege und der Verwaltung vom 14.6.1932[10], welche den Tatrichter am Amtsgericht sowie in Berufungssachen am Landgericht von der Erhebung präsenter Beweise freistellte und den Umfang der Beweisaufnahme in das Ermessen des Gerichts zurückgab; damit blieb von einem Recht, einen Beweis zu beantragen, nicht mehr viel. Schon aus der Konzentration dieser Gesetzesänderung auf bestimmte Gerichte lässt sich ablesen, dass dieser Schlag gegen das Beweisantragsrecht nicht aus grundsätzlichen, sondern aus ökonomischen Motiven geführt wurde. Es war die wirtschaftliche Not der Zeit, welche eine Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren nahe legte.[11] Diesem Ziel standen natürlich die Interventionsrechte des Beschuldigten, insbesondere das Beweisantragsrecht, im Wege; diese Rechte können das Verfahren verzögern und verteuern.
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Dass in den ersten Jahren nach 1933 die „Gleichschaltung“ der Justiz noch nicht vollständig gelang, dass vielmehr Reformbestrebungen aus der Weimarer Zeit noch eine Chance hatten, lässt sich auch im Beweisantragsrecht studieren. Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GVG vom 28.6.1935[12] sah zwar eine Pflicht zur Erhebung präsenter Beweise nicht vor, übernahm aber für große Teile der Strafrechtspflege die vom Reichsgericht entwickelten Grundsätze zum Beweisantragsrecht. Vor dem Amtsgericht und dem Landgericht in Berufungssachen stellte das Gesetz die Beweisaufnahme in das Ermessen des Tatrichters. Für die anderen Tatgerichte wurden jedoch die möglichen Ablehnungsgründe für Beweisanträge formalisiert. Diese Formalisierung entsprach der Regelung, wie sie § 244 Abs. 3 StPO heute vorsieht. Der Gesetzestext erhielt folgende Fassung:
§ 244
(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.
(2) Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist.
§ 245