Название: Beweisantragsrecht
Автор: Winfried Hassemer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Praxis der Strafverteidigung
isbn: 9783811448209
isbn:
(2) Im übrigen kann in der Verhandlung vor den Gerichten, bei denen nach dem Gesetz allgemein die Berufung ausgeschlossen ist, die Erhebung eines Beweises nur abgelehnt werden, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist, wenn wegen Offenkundigkeit eine Beweiserhebung überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist, wenn der Antrag zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt ist oder wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.
(3) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses.
14
Es überrascht nicht, dass das Beweisantragsrecht unter der nationalsozialistischen Rechtspolitik nicht überleben konnte; es passte nicht zu der harmonistischen Verkleisterung, die vorgaukelte, dass alle Beteiligten gemeinsam nach Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren suchen sollen. Unter der Flagge der „Vereinfachung“ der Strafrechtspflege wurde das Beweisantragsrecht durch die Verordnung vom 1.9.1939[13] und durch die Verordnung vom 13.8.1942[14] ausradiert. Es begann mit der Aufhebung des Verbots der Beweisantizipation, was dem Beweisantragsrecht das Rückgrat brach. Ob der Richter einem Beweisantrag folgte, wurde in sein freies Ermessen gestellt; eine Ablehnung wurde erlaubt, wenn die Beweiserhebung nicht erforderlich war. 1942 folgte dann auch noch die Beseitigung des Rechts auf unmittelbare Ladung.[15]
15
Das „Vereinheitlichungsgesetz“ vom 12.9.1950[16] führte die Absätze 3–6 des § 244 StPO und damit das Beweisantragsrecht wieder ein. In § 245 i.V.m. § 220 StPO wurde die unmittelbare Ladung von Zeugen und Sachverständigen durch den Angeklagten normiert. Das Strafprozessänderungsgesetz vom 19.12.1964 dehnte § 166 StPO auf Vernehmungen durch die Ermittlungsbehörden aus (§ 163a Abs. 2 StPO) und das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 fasste § 245 StPO neu, indem es Beschränkungen bei der Erhebung präsenter Beweise vorsah.[17]
16
Auf alte Rezepte zurückgegriffen hat der Gesetzgeber dann im Zuge der Anfang der 80er Jahre einsetzenden Diskussion über die Notwendigkeit einer Justizentlastung.[18] Unter dem Eindruck einer Reihe langwieriger Großverfahren und vielfältiger Klagen aus der Praxis geriet das Beweisantragsrecht ins Schussfeld moderner Justizreformer. Der extensive Gebrauch dieses Rechts war nach Meinung mancher Autoren einer der Gründe für die Verzögerung vieler Strafverfahren. Zur Debatte standen deshalb außerordentlich weit reichende Einschränkungen des Beweisantragsrechts, ohne dass die dem zugrunde liegende Annahme, gerade der (wirkliche oder angebliche) Missbrauch des Beweisantragsrechts führe zu ungewollten Verfahrensverzögerungen, empirisch belegt war – heute gibt es Belege für das Gegenteil. Anlass zu Kritik mag dabei hintergründig auch die Kombination einer Androhung von Beweisanträgen mit Verhandlungen über eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung gewesen sein.
Der Gesetzgeber hat sich im Ergebnis den aus der Praxis gestellten Forderungen nicht vollständig unterworfen; er hat sie jedoch auch nicht vollständig zurückgewiesen. Mit dem durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993[19] eingefügten § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO hat der Tatrichter die Befugnis erhalten, einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, nach den Maßstäben der Aufklärungspflicht zu bescheiden, d.h. er ist nicht an die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO gebunden, wenn er einen derartigen Antrag ablehnen will. Weitere Beschränkungen des Beweisantragsrechts enthalten § 420 Abs. 4 StPO für das beschleunigte Verfahren sowie § 411 Abs. 2 Satz 2 StPO für das Strafbefehlsverfahren, eingefügt durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994.[20]
17
Wiederum mit Blick auf eine erhoffte Entlastung der Justiz und eine Beschleunigung der Strafverfahren hat der Gesetzgeber im Jahr 2017 dann eine jahrzehntelang unangetastet gebliebene Grundnorm des Beweisantragsrechts nachhaltig verändert. Durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 wurde in § 244 Abs. 6 StPO dem Vorsitzenden die Befugnis eingeräumt, den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen zu setzen.[21] Wird nach Fristablauf ein Beweisantrag gestellt und dabei nicht hinreichend begründet, dass eine frühere Antragstellung nicht möglich war, darf das Gericht über diesen Antrag in den Urteilsgründen entscheiden. Der Antragsteller erfährt die Gründe für die Antragsablehnung mithin erst zu einem Zeitpunkt, zu dem er auf sie nicht mehr reagieren kann.[22]
18
Im Jahr 2017 wurde ferner § 244 Abs. 5 StPO geändert.[23] Der neu in das Gesetz aufgenommene Satz 3 muss im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 32e StPO gelesen werden. Ob die Bestimmung große praktische Bedeutung erlangen wird, bleibt abzuwarten.
19
Im Ganzen macht die historische Entwicklung deutlich, dass das Beweisantragsrecht in Zeiten gedeiht, in denen Justizpolitik nicht vordringlich unter ökonomischen Zwängen betrieben wird und in denen eher die Rechtsposition des Beschuldigten im Strafverfahren als jener Wert, der gerne mit „die Effektivität und Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“[24] bezeichnet wird, die Leitlinien der Rechtspolitik bestimmt. Andererseits ist klar, dass das Beweisantragsrecht zu denjenigen strafprozessualen Institutionen gehört, welche einer auf „Vereinfachung“ und „Effektivierung“ bedachten Politik am ehesten anheim fallen.[25] Diese Erkenntnis erleichtert es, die Position des Beweisantragsrechts in einem kriminalpolitischen Klima zu verorten.
Anmerkungen
Der Gang der Reform im Überblick ist nachzulesen bei Rüping/Jerouscheck Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 1998, S. 80 ff. und 86 ff.; detaillierter bei Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1983, §§ 284 ff., 287 ff.
Vgl. zur unterschiedlichen Rechtslage in Preußen, Sachsen und Bayern die instruktive Darstellung bei Schatz Beweisantragsrecht, S. 42 ff.; zur Rechtslage in Hessen-Nassau: Hoffmann Der unerreichbare Zeuge, S. 37 ff.
Vgl. zur Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Regelungen: Schatz Beweisantragsrecht, S. 57 ff.
Im Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GVG vom 28.6.1935, RGBl. I, 844; zu den Reformbestrebungen um die Jahrhundertwende: Schatz Beweisantragsrecht, S. 72 ff.
RGSt 1, 61.
RGSt СКАЧАТЬ