Название: Beweisantragsrecht
Автор: Winfried Hassemer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Praxis der Strafverteidigung
isbn: 9783811448209
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Auf diese Erfahrung antwortet eine lange Tradition europäischer Erkenntnistheorie mit der „Konvergenzhypothese“[1]. Sie geht davon aus, dass sich auch die empirisch wahrnehmbare Welt – um die es in der Beweisaufnahme ja geht – dem einzelnen Beobachter nur von der Seite her präsentiert, von der her er die Dinge anschaut. Folglich darf dieser Beobachter nicht hoffen, dass ihm die Anschauung der Dinge vollständig, dass sie ihm adäquat gelinge. Er ist vielmehr – will er sich der Gegenstände verlässlich vergewissern – auf die Beobachtung derselben Gegenstände durch andere zwingend angewiesen. Also wird von ihm Austausch, Kommunikation verlangt. Nicht schon von der Sicht eines einzelnen Beobachters, sondern erst von der Konvergenz der unterschiedlichen Zugänge zu einem Gegenstand darf Verlässlichkeit erwartet werden. Auch diese Verlässlichkeit ist freilich nur eine historische und relative: menschliche Erkenntnis ist immer verbesserungsbedürftig, sie kann sich ihres Gegenstands niemals vollständig, sondern nur asymptotisch vergewissern.
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Daraus folgt, dass „wahre“ Erkenntnis nicht erhofft werden kann von den Beobachtungen eines einzelnen Individuums – und seien sie auch noch so sorgfältig. Erkennen ist vielmehr ein Annäherungsprozess, an dem unterschiedliche Sichtweisen beteiligt sein müssen und der auf eine Konvergenz dieser Sichtweisen abzielt. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Beobachter sich untereinander konfliktfrei oder „friedfertig“ austauschen; auch im Streit kann sich Konvergenz herstellen, so lange die streitenden Beobachter sich auf die Sache beziehen. Auf diese Sicht menschlicher Erkenntnisfähigkeit kann sich zwanglos berufen, wer das Beweisantragsrecht im Strafprozess begründen will.
Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 3. Konsensustheorie der Wahrheit
3. Konsensustheorie der Wahrheit
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Die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule hat den Grundgedanken der Konvergenzphilosophie differenziert und weiter ausgebaut.[2] Auch diese „Konsensustheorie der Wahrheit“ vermag die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts im Strafverfahren einsichtig zu machen.
Gemeinsamer Ausgangspunkt ist, dass es Wahrheit aus bloßer Anschauung nicht geben kann, wie dies noch die frühe „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ behauptet hatte. Dort war die Wahrheit der Erkenntnis durch die schlichte Übereinstimmung zwischen Sache und erkennendem Subjekt bestimmt worden („adaequatio rei et intellectus“); die Sichtweise der Korrespondenztheorie ist freilich zu simpel. Eine solche Übereinstimmung (und damit die Wahrheit) lässt sich nämlich nur feststellen, wenn die Sache, die „res“, außerhalb des Erkenntnisprozesses zur Verfügung steht – wie sonst sollte eine „adaequatio“, eine Übereinstimmung, erkannt werden können? Eine solche Voraussetzung ist nie erfüllbar. Es gibt kein Maß außerhalb unserer Erkenntnis, an welchem sich diese Erkenntnis als „wahr“ erweisen könnte.
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Wenn nicht in der Korrespondenz von Beobachtungsgegenstand und Beobachtung – wo sonst ist dann die Wahrheit von Erkenntnis begründet? Die Antwort der Frankfurter Schule, dass es nämlich um den Konsens der beteiligten Beobachter geht, ist eigentlich zwingend. Denn wenn es kein objektives Kriterium wahrer Erkenntnis gibt, so muss die Übereinstimmung der beteiligten Subjekte das Wahr-Zeichen sein. Oder anders gedacht: Wenn die Wahrheit nicht in den Inhalten, den Gegenständen liegt, so muss man sie im Verfahren suchen, welches sich mit diesen Gegenständen befasst.
Dass sich, nach Ansicht der Kritischen Theorie, die Wahrheit im „herrschaftsfreien Diskurs“ der Beteiligten herstellt, diskreditiert diese Theorie nicht etwa deshalb, weil es im Strafverfahren niemals „herrschaftsfrei“ zugehen könnte. Das ist zwar heute richtig und mag möglicherweise für immer richtig sein, ändert aber nichts daran, dass Wahrheit nur in einem diskursiven Vorgehen aller Beteiligten erwartet werden darf. Man kann die Verfahrensregeln der StPO, und speziell auch die des Beweisantragsrechts, durchaus verstehen als Regulierungen einer Auseinandersetzung, welche Fairness und Waffengleichheit herstellen sollen. Dass es nicht um einen „privaten“ oder freiwillig geführten Diskurs, sondern um Auseinandersetzung innerhalb einer Institution geht, ändert nichts daran, dass die Auseinandersetzung regelgeleitet sein muss. Nur wenn diese Regeln jedem Beteiligten eine faire Chance der Intervention geben, kann sich die Auseinandersetzung auf die Herstellung, anstatt auf die Unterdrückung, von Wahrheit zubewegen. Dass es am Ende nicht um „Konsens“ in einem alltäglichen Verständnis gehen kann, ist klar. Es geht vielmehr – im Strafverfahren – eher um eine regelgeleitete Verarbeitung von Dissens.
Einer der wichtigsten Bestandteile dieser Regeln ist das Beweisantragsrecht. Es ordnet die Auseinandersetzung um den richtigen Weg zur Erkenntnis von Tatsachen, die als wahr, als bestätigt, als verlässlich gelten dürfen. Es geht davon aus, dass an der Auseinandersetzung um diesen Weg kontroverse Sichtweisen beteiligt sind, und es teilt jeder dieser Sichtweisen Durchsetzungschancen zu. Es reguliert – etwa in § 244 Abs. 3–5 StPO –, welche Wege zur Feststellung von Tatsachen nicht begangen werden dürfen, und es ordnet – etwa in § 244 Abs. 6 StPO – ein Verfahren für die Verarbeitung von Dissensen an.
Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 4. Wahrnehmungsphysiologie, Wahrnehmungspsychologie
4. Wahrnehmungsphysiologie, Wahrnehmungspsychologie
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Dass nicht die Inquisition eines einzelnen Beobachters, sondern die Auseinandersetzung mehrerer Beteiligter der richtige Weg zur Feststellung von Tatsachen ist, wird auch von modernen Erkenntnissen der Physiologie und Psychologie der Wahrnehmung bestätigt. Diese Erkenntnisse belegen ebenfalls, wie wenig verlässlich die Wahrnehmung des Menschen ist.
Ausgangspunkt ist die einfache Erkenntnis, dass es nicht menschenmöglich ist, sämtliche Informationen aus der Außenwelt zu verarbeiten, die im jeweiligen Zeitpunkt der Beobachtung zur Verfügung stehen. Selbst innerhalb der kleinsten Zeiteinheit, in der wir die Außenwelt wahrnehmen, steht uns eine übergroße Zahl an möglichen Informationen zur Verfügung, die wir nur der Möglichkeit nach, nicht aber in Wirklichkeit verarbeiten können: im Gerichtssaal beispielsweise Einzelheiten der Kleidung oder der Mimik aller Anwesenden, Einzelheiten des Raumes, in dem verhandelt wird, des Lichts, der Farben, Geräusche und Gerüche, unwillkürlichhe Körperreaktionen usw.
Wir sind gewohnt, den übergroßen Teil dieser Informationen als „irrelevant“ gar nicht erst in die Wahrnehmung einzubeziehen. In der Sprache der modernen systemtheoretischen Handlungslehre[3] heißt das „Reduktion von Komplexität“. Damit ist gemeint, dass jedes System – und so auch das handelnde und wahrnehmende Individuum – die Informationen aus seiner Außenwelt reduzieren muss, weil sie sonst in ihrer übergroßen Komplexität nicht verarbeitet werden könnten. Dies bedeutet zwar nicht, dass unsere Wahrnehmung „falsch“ ist; jedenfalls aber ist sie unausweichlich selektiv. Wie aber lässt sich diese Selektion sichern?
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