Название: Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen
Автор: Annabel Herzog
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783846353493
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Insgesamt gibt es leider erst wenige Resultate aus Studien, die sich empirisch mit den neuen Diagnosekriterien beschäftigen. Hier besteht dringend weiterer Forschungsbedarf.
1.5 Zusammenfassung
Anhaltende Körperbeschwerden sind ein häufiges, sowohl für die Betroffenen als auch für das Gesundheitssystem bedeutsames Phänomen. Mit einer zunehmenden Anzahl an belastenden Körpersymptomen steigt das Risiko für individuelles Leiden, Funktionseinschränkungen im Alltag, psychische Belastung, wiederholte Arztbesuche, gesundheitsbezogene Kosten und Arbeitsunfähigkeit. Im Rahmen der medizinischen Diagnostik sollten daher immer sowohl das Ausmaß körperlicher Symptome, als auch die damit verbundene Belastung erhoben werden. Um die Auswirkungen der Beschwerden, das Ausmaß der Beeinträchtigung und das Chronifizierungsrisiko sinnvoll einschätzen zu können, sollten neben einer angemessenen organmedizinischen Abklärung der Körperbeschwerden, im Sinne eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses, immer auch psychische, soziale und verhaltensrelevante Ursachen für symptombedingtes Leiden erfragt werden. Diese Verknüpfung spiegelt sich auch in der neuen Diagnose der somatischen Belastungsstörung (nach DSM-5 und ICD-11) wider, die sich durch das Vorhandensein belastender Körpersymptome bei einem dysfunktionalen kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Umgang mit diesen Beschwerden kennzeichnet. Damit wird die Diagnose der somatischen Belastungsstörung frühere Konzepte wie das der somatoformen Störungen oder der medizinisch unerklärten Körperbeschwerden zukünftig ablösen. Die somatische Belastungsstörung wird als psychische Diagnose unabhängig von der Verursachung der somatischen Symptome vergeben. Wie der diagnostische Prozess im besten Falle aussehen könnte, und wie betroffene Patientinnen und Patienten in geeigneten Versorgungssetting adäquat therapeutisch behandelt werden sollten, wird in den folgenden Kapiteln dieses Buches beschrieben.
1.6 Fragen zum 1. Kapitel
1.Was sind drei der häufigsten körperlichen Beschwerden in der Allgemeinbevölkerung?
2.Wie hoch wird der Anteil unerklärter Körperbeschwerden in der allgemeinmedizinischen Versorgung geschätzt?
3.Welche diagnostischen Begriffe für anhaltende Körperbeschwerden werden in unterschiedlichen Kontexten benutzt?
4.Die somatische Belastungsstörung gemäß DSM-5 und ICD-11 ist das aktuellste diagnostische Konzept für belastende und anhaltende Körperbeschwerden: Welche früheren Konzepte kennen Sie und worin bestehen die Hauptunterschiede zwischen diesen Konzepten?
5.Für die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 müssen eines oder mehrere beeinträchtigende somatische Symptome über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten vorliegen. Welches weitere diagnostische Kriterium muss erfüllt sein?
2 Epidemiologie
2.1 Prävalenz
Anhaltende Körperbeschwerden sind ein weit verbreitetes Phänomen. Genaue Schätzungen zur Prävalenz und Inzidenz klinisch relevanter Körperbeschwerden lassen sich nur schwer bestimmen. Wie im vorherigen Kapitel beschrieben, existieren zahlreiche unterschiedliche Begrifflichkeiten und diagnostische Konzepte zur Klassifikation anhaltender und medizinisch unerklärter Körperbeschwerden, somatoformer und funktioneller Störungen und somatischer Belastungsstörungen. Die Prävalenzzahlen lassen sich entsprechend nur bezogen auf die jeweils zugrunde liegenden diagnostischen Kriterien (Kap. 5) bestimmen und interpretieren.
2.1.1 Allgemeinbevölkerung
In der Allgemeinbevölkerung sind körperliche Beschwerden sehr häufig.
In einer Studie aus dem Jahr 2006 gaben 82 % der befragten Teilnehmerinnen und Teilnehmer Beschwerden an, die sie innerhalb der letzten sieben Tage zumindest leicht beeinträchtigten, 22 % berichteten sogar mindestens eine Beschwerde, die sie schwer beeinträchtigte (Hiller et al. 2006). Die Teilnehmenden wiesen dabei oft multiple Körperbeschwerden anstatt nur einzelner Symptome auf und berichteten im Durchschnitt sieben verschiedene Symptome. Dabei wurden vor allem Rücken-, Kopf-, Gelenk- und Menstruationsschmerzen, Schmerzen in den Extremitäten, Verdauungsbeschwerden und mit Sexualität assoziierte Beschwerden wie Erektions- und Ejakulationsstörungen genannt. In einer vergleichbaren Studie aus Großbritannien ergaben sich als häufigste über die vergangenen 2 Wochen berichteten Symptome Müdigkeit, Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Rückenschmerzen und Schlafstörungen (McAteer et al. 2011), wobei im Durchschnitt vier belastende Symptome pro befragter Person genannt wurden. In einer Studie aus den USA zeigte sich, dass von 1000 befragten Personen jeden Monat 80 % körperliche Beschwerden verspürten, die sie als beeinträchtigend beschrieben (Green et al. 2001).
Die Häufigkeitsbestimmung der so genannten „medizinisch unerklärten“ oder „somatoformen“ Beschwerden in der Allgemeinbevölkerung ist dadurch erschwert, dass die somatoforme Symptomatik oftmals nicht als solche erkannt wird und somit auch nicht die passende Diagnose gestellt werden kann. Angaben zur Prävalenz medizinisch unerklärter Körperbeschwerden schwanken daher massiv (Hilderink et al. 2013).
Auch die Häufigkeit somatoformer Störungen nach ICD-10 (WHO 1996) oder DSM-IV (APA 2000) lässt sich in der Allgemeinbevölkerung, außerhalb eines klinischen Kontextes, nur schwer bestimmen. In repräsentativen Bevölkerungsstichproben werden nur selten standardisierte klinische Interviews (Kap. 5) durchgeführt, mit denen sich die Häufigkeit somatoformer Störungen zuverlässig ermitteln lassen könnte.
Im Bundesgesundheitssurvey 1998 / 1999, einer Umfrage zur Häufigkeit psychischer und körperlicher Erkrankungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung, wurde eine Lebenszeitprävalenz von 16,2 %, eine 12-Monats-Prävalenz von 11 % und eine 4-Wochen-Prävalenz von 7,5 % für die gesamte Diagnosegruppe der somatoformen Störungen nach ICD-10 ermittelt (Jacobi et al. 2004).
Knapp ein Drittel der Patientinnen und Patienten gaben dabei zwei oder mehr Schmerzsymptome an; am häufigsten wurden Kopf-, Unterbauch- und Rückenschmerzen berichtet (Fröhlich et al. 2006). Bezogen auf die Lebenszeitprävalenz sind somatoforme Störungen damit die dritthäufigste Störung nach Suchtstörungen und Angststörungen (Jacobi et al. 2004).
Für die undifferenzierte Somatisierungsstörung (zu den diagnostischen Kriterien (siehe Kap. 5) wurde in einer weiteren Studie aus der deutschen Allgemeinbevölkerung eine Punktprävalenz von 19,7 % festgestellt (Grabe et al. 2003). Für die Somatisierungsstörung, die durch sehr streng definierte diagnostische Kriterien gekennzeichnet ist, wurde in einer repräsentativen Studie aus den USA eine Lebenszeitprävalenz unter 1 % gefunden (Robins / Regier 1991).
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