Название: Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen
Автор: Annabel Herzog
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783846353493
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1.3 Historische Konzepte
Anhaltende Körperbeschwerden sind kein neues Phänomen. Medizinisch unerklärte Körperbeschwerden sind vermutlich seit Anbeginn der medizinischen Lehre bekannt.
Eine ausführliche Darstellung der Historie somatoformer Störungen findet sich bei Morschitzky (2007).
Im Folgenden werden die zentralen Entwicklungen in der Konzeptualisierung der somatoformen Störungen bis hin zur heute aktuellen Diagnose der somatischen Belastungsstörung (nach ICD-11 und DSM-5) in Kürze dargestellt.
Vor allem der Somatisierungsbegriff findet sich bereits früh bei Stekel (1908, 1935; vgl. Kleinstäuber 2018). Lange Zeit galt die Somatisierung nicht als eigenständige Störungseinheit, sondern als Symptom und Folge einer anderen zugrunde liegenden psychopathologischen Störung, vor allem der Hysterie (Hoffmann 1996) oder der (larvierten) Depression. Bridges und Goldberg (1985) benannten ein hohes ärztliches Inanspruchnahmeverhalten, einen somatischen Attributionsstil der Beschwerden, das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung sowie ein Ansprechen der somatischen Beschwerden auf die Behandlung der psychischen Primärerkrankung als notwendige Kriterien, um die Diagnose einer Somatisierung zu erfüllen.
Konzept der Somatisierung
In der klassischen, psychoanalytisch geprägten Psychosomatik wurde Somatisierung nicht als Kategorie für eine Störungseinheit genutzt, sondern vielmehr als Bezeichnung für einen Prozess bzw. pathologischen Mechanismus, der sich auf den Vorgang der Konversion psychischer Konflikte in somatische Symptombildung bezog (Hoffmann 1996; Küchenhoff 2001). Dahinter steht die Idee, dass der Verlust bestimmter körperlicher Funktionen (z. B. Sehen, Hören oder willkürliche motorische Handlungen) in Zusammenhang zu starken emotionalen Zuständen (z. B. als Folge von Traumatisierungen) steht.
Konversion und Dissoziation
In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff der Dissoziation beschrieben, der eine Desintegration von mentalen Prozessen und Inhalten wie des Erlebens, Handelns oder des Gedächtnisses meint (Kapfhammer 2001).
biopsychosoziale Konzepte
Das bekannteste Vorläuferkonzept der heutigen somatoformen Störungen (bzw. der Somatisierung) ist das bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführte „Briquet-Syndrom“ (Briquet 1895). Briquet konzeptualisierte die Somatisierungsstörung dabei multifaktoriell (biopsychosozial) und benannte entsprechend emotionale Einflüsse, familiäre Erfahrungen und psychosoziale Stressoren als relevante Einflussfaktoren für die Symptomentstehung. Auch in der Definition von Lipowski (1988, S. 1359) wird die Somatisierung als multidimensionales Phänomen beschrieben. Es handelt sich demnach um
„eine Tendenz, körperlichen Stress zu erleben und zu kommunizieren, der nicht hinreichend durch pathologische Befunde zu erklären ist, diesen auf körperliche Erkrankungen zurückzuführen und dazu medizinische Hilfe aufzusuchen“.
Diese frühe Definition bildet die charakteristischen Merkmale der Somatisierung gut ab und bezieht perzeptuelle, kognitive und auch verhaltensbezogene Merkmale mit ein. Sie hat die Begriffsbestimmungen der somatoformen Störungen in den Klassifikationssystemen der Weltgesundheitsorganisation (WHO: International Classification of Disorders [ICD]) und der American Psychiatric Association (APA: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders [DSM]) stark geprägt.
In den Klassifikationssystemen der WHO (1991) und der APA (2000) wurden die somatoformen Störungen lange Zeit als eigenständige, primäre Störungskategorie aufgeführt (Abb. 1.4). Die Diagnosen enthielten dabei nicht nur störungswertige Merkmale der Person selbst (Tendenz, körperlichen Stress zu erleben und zu kommunizieren), sondern beinhalteten auch ein dysfunktionales Interaktionsmuster zwischen den Patientinnen und Patienten mit ihren Erklärungsmustern und Verhaltensweisen einerseits und den Ärztinnen und Ärzten bzw. dem medizinischem System andererseits.
Abb. 1.4: Klassifikation der somatoformen Störungen nach ICD-10 (WHO 1992)
Als Alternative zur Diagnose der somatoformen Störung wurde lange Zeit vor allem in den Leitlinien der ICD für die ärztliche Primärversorgung der Begriff der „medizinisch unerklärten Symptome“ verwendet (Deary 1999). Der Begriff ist neutraler im Vergleich zum Somatisierungsbegriff, der durch seine historische Verknüpfung mit dem Konzept der Hysterie vorbelastet ist und dadurch auf Patientinnen und Patienten stigmatisierend wirken kann. Trotzdem ist der Begriff nicht unumstritten.
medizinische Erklärbarkeit von Körperbeschwerden
In der Wissenschaft findet sich der Standpunkt, dass alle körperlichen Beschwerden erklärbar sind, wenn die medizinische Abklärung nur ausführlich genug durchgeführt wird, und es lediglich eine Frage des medizintechnischen Fortschrittes ist, bis alle Beschwerden erklärt werden können. In der Praxis tun sich Behandlerinnen und Behandler häufig schwer, einzelne Beschwerden als hinreichend medizinisch erklärbar oder nicht einzuordnen (Fischer / Nater 2012).
1.4 „Revolution“ der diagnostischen Konzepte: aktueller Stand
Diese historischen diagnostischen Konzepte wurden aktuell durch Expertengremien der Weltgesundheitsorganisation und der American Psychiatric Association sowohl im DSM-5 (APA 2013) als auch in der ICD-11 (WHO 2018) durch neue Diagnosen abgelöst. Die neue Terminologie reflektiert das heutige Verständnis zur Pathogenese, Aufrechterhaltung und Prognose von subjektiv belastenden Körpersymptomen und soll damit auch den therapeutischen Zugang erleichtern, um unbefriedigende Behandlungsverläufe und eine Chronifizierung von körperlichen Beschwerden frühzeitig abwenden zu können (Känel et al. 2016).
Neuerungen in der Klassifikation
In der 2013 erschienenen 5. Auflage des „Diagnostischen und Statistischen Manuals für psychische Störungen“ (DSM-5) der American Psychiatric Association wurden die Somatisierungsstörung, die undifferenzierte somatoforme Störung, die Hypochondrie und die Schmerzstörung als Diagnosen abgeschafft. Die meisten der Patientinnen und Patienten, die zuvor eine dieser Diagnosen erhielten, erfüllen mit ihren Symptomen nun die Kriterien der so genannten somatischen Belastungsstörung (englische Übersetzung: Somatic Symptom Disorder).
In der 2018 von der WHO in Genf vorgestellten Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation – 11. Revision (ICD-11) wurde die diagnostische Kategorie der somatoformen Störungen ebenfalls ersetzt, und zwar durch die so genannte Bodily Distress Disorder; in der deutschen Übersetzung soll die neue Diagnose ebenfalls somatische Belastungsstörung heißen. Die Kriterien sind den im DSM-5 beschriebenen inhaltlich sehr ähnlich und gehen entsprechend mit denselben Veränderungen und Implikationen einher.
neue Diagnose der somatischen Belastungsstörung
Die ICD-11 wurde 2019 durch die Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) verabschiedet. Über den Zeitpunkt einer möglichen Einführung der ICD-11 in Deutschland sind allerdings derzeit noch keine Aussagen möglich. Solange behält die ICD-10 der WHO im deutschen Gesundheitssystem für die Kodierung von (psychischen) Erkrankungen und die Abrechnung stationärer und ambulanter Leistungen ihre Gültigkeit. Entsprechend behalten auch die „somatoformen Störungen“ ihre Berechtigung in der Klassifikation anhaltender und belastender Körperbeschwerden.
Hypochondrie СКАЧАТЬ