Kardinäle, Künstler, Kurtisanen. Arne Karsten
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Название: Kardinäle, Künstler, Kurtisanen

Автор: Arne Karsten

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783534273911

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СКАЧАТЬ nicht mehr addiert und wenn doch, oft genug falsch; Saldi werden nicht mehr gezogen, Bilanzen nicht mehr erstellt: eine traumhafte Situation für die Geschäftswelt in Rom, vor allem für die genuesischen Großfirmen, die Getreide einkaufen und Kredite bereitstellen. Niemand schaut ihnen auf die Finger. Rom, der große Selbstbedienungsladen in Sachen Finanzen.

      Die Kardinäle, welche im August 1676 das Konklave beziehen, wissen oder ahnen zumindest, wie ernst die Lage ist, auch wenn sie keine sicheren Zahlen kennen. Schon seit mehr als einem Jahrzehnt hat sich das Kollegium der Purpurträger in ganz neuartiger Weise sortiert – und damit zugleich polarisiert. Die alten Gefolgschaften, die sich um Spanien und Frankreich und um die Kardinalnepoten der letzten Päpste scharen, bestehen durchaus fort. Doch die damit gezogenen Grenzen verblassen zunehmend; viel schärfer tritt jetzt eine neuartige Trennlinie hervor. Auch sie mutet uns Heutigen vertraut an. Denn sie verläuft zwischen Reformern und Beharrern. Die Letzteren, überwiegend saturierte alte Männer, besitzen eine seltene Fähigkeit: unbegrenzt verdrängen zu können. Ihre Devise lautet: es wird schon weitergehen, zumindest so lange, wie wir leben. Hatte nicht schon der Erzbösewicht Machiavelli anderthalb Jahrhunderte zuvor in seinem ruchlosen Traktat über den Fürsten geschrieben, dass die Herrschaft des Papstes schlichtweg nicht untergehen kann? Die Fraktion der Reformer – sie macht gerade einmal ein Neuntel der Wahlberechtigten aus – ist davon längst nicht mehr überzeugt. In ihren Augen ist die Welt böser geworden, ja sie schreckt vor nichts mehr zurück, nicht einmal davor, Hand an das Papsttum zu legen. Dabei versteht diese Gruppierung der zelanti, der „Eiferer“, Reform im ursprünglichen Wortsinn: Wiederherstellung der alten, besseren Gestalt. In diesem Fall heißt das: zurück zu den strengen Leitsätzen des Konzils von Trient, die in ihrer Schärfe niemals zur Anwendung gelangt sind. Vor allem aber bedeutet es einen politisch-moralischen Appell, dessen Befolgung in ihren Augen gleichfalls seit mehr als einem Jahrhundert überfällig ist: schaffen wir endlich den ewigen Stein des Anstoßes aus dem Weg – schaffen wir den Nepotismus ab. Seit langem ist kaum ein Jahr vergangen, in dem nicht – auch das eine Ähnlichkeit zum frühen 21. Jahrhundert – der regierende Papst eine hochkarätige Kommission ins Leben gerufen hat, die sich dieser Frage aller Fragen zu widmen hatte. Darf er oder darf er nicht – darf der regierende Pontifex maximus seine Verwandten erhöhen, und falls ja, wie weit, wie glanzvoll, wie kostspielig? Was wie ein müßiges Spiel der Regierenden aussehen mag, ist in Wirklichkeit blutiger, heiliger Ernst: Roms Herz, der Nepotismus, schlägt unruhig. Und nach der Mitte des 17. Jh. erbringt diese angstvolle, qualvolle Gewissensbefragung immer seltener die erhofften beschwichtigenden Antworten (die am Ende doch nicht beruhigen können) und stattdessen immer häufiger ein niederschmetternd negatives Resultat: nein, er darf nicht, schlimmer noch, er stellt sein Seelenheil aufs Spiel, wenn er es tut. Und so stirbt Innozenz’ dritter Vorgänger, Alexander VII., der sich am Beginn seiner Regierung als erster eine Generalsanierung des Systems Rom zu Ziel gesetzt hatte, 1667 im Zustand der völligen Verzweiflung; er hatte einige Monate lang durchgehalten, hatte seine Verwandten von Rom fern gehalten, um dann umso rückhaltloser rückfällig zu werden.

      Neun Jahre später wird die Wahl des neuen Papstes auf diese Weise zu einer Abstimmung über Sein oder Nichtsein: Rückwärtserneuerung im Sinne einer rigorosen moralischen Ökonomie – oder Augen zu und vorwärts in den Bankrott. Im Jargon der Fachkommissionen ausgedrückt: wollen wir, brauchen wir einen Papst, dem nichts Menschliches fremd ist, oder einen Pontifex, der ganz dem Jenseits zugewandt ist? Theologisch konnte man beide Varianten begründen. Schließlich war Christus, der Gottessohn, selbst Mensch geworden, hatte sich also aus der einsamen Höhe des Göttlichen herabgelassen zu seinen Geschöpfen, nicht zuletzt, um auch deren Empfindungen zu teilen. Also musste auch Er gewusst haben, dass Blut dicker ist als Wasser; und waren Seine Apostel nicht gleichfalls nach Verwandtschaft handverlesen? Dieser religiösen Rechtfertigung des Nepotismus radikal entgegen waren die ‘Eiferer’ der Ansicht, dass das Amt des Papstes im Wesentlichen nicht von dieser Welt sein durfte, sondern auf Zeitenende und Ewigkeit gerichtet zu sein hatte. Weltliche Herrschaft war eine Last, eine Treuhänderschaft, die man leidend und duldend auf sich nehmen musste: zum Nutzen der anderen – und mit sauberen Händen. Mani pulite 1676.

      Und damit enden die Parallelen zur Gegenwart. Denn am 21. September 1676 erheben die Kardinäle den radikalsten aller Reformer zum Papst: Benedetto Odescalchi, fünfundsechzig Jahre alt, seit einunddreißig Jahren Kardinal und dadurch mit den Missständen des alten Systems bestens vertraut. Hinterher konnte niemand behaupten, er habe nicht gewusst, was er tat. Der neue Papst hatte wie nicht wenige Kardinäle der letzten zwei Jahrhunderte einen Lebensstil des symbolischen Widerstands geführt und damit das Gegenbild einer alternativen Kirche gezeichnet. In Zeiten des voll entfalteten, um nicht zu sagen: entfesselten Nepotismus hatte er innerweltliche Askese praktiziert. Ein weißgetünchtes Schlafgemach fast ohne Möbel, nur ein Kruzifix an der Wand, frugalste Mahlzeiten, dauerndes Memento mori – bedenke, dass du sterben musst. Das war sehr barock, passte zum Zeitgeist und hieß noch nicht viel. Schließlich hielt sich auch Alexander VII., welcher der süßen Stimme des Blutes am Ende nachgab, einen aufgeschlagenen Sarg als Wohnzierde.

      Gianlorenzo Bernini, Karikatur Innozenz’ XI. Odescalchi

      Ein fader Pedant, öder Kleingeist und Verächter des Schönen – so zeigt Berninis grausame Karikatur den durchgreifendsten Reformpapst der Neuzeit. Diesen Hass zog sich Innozenz XI. dadurch zu, dass sein Regierungsprogramm „Spitäler statt Spektakel“ lautete, womit die römische Kunstindustrie in eine Auftragskrise ohnegleichen gestürzt wurde. Im Übrigen ermangelte der rigorose Luxusverbieter und Sitteneinschärfer, der zugleich die Zwangskonversionen der Hugenotten im Frankreich Ludwigs XIV. ab 1685 indirekt missbilligte, nicht des Humors und der Fähigkeit zur Selbstkritik – vielleicht hätte er also bei aller Bitternis der Charakterzeichnung über sein genial verzerrtes Konterfei sogar geschmunzelt.

      Innozenz XI. aber war aus anderem, aus härterem Holz geschnitzt. Und bei aller Weltabgewandtheit war er ein Finanzpolitiker großen Stils. Den global players der großen Konzerne sollte schnell Hören und Sehen vergehen. Nicht umsonst stammte dieser Papst aus einer Familie, die über Generationen hinweg im Großhandel reich geworden war; diese ererbten Managerqualitäten werden jetzt gegen die Großfinanz gewendet. ATTAC hätte seine Freude daran.

      Um einen Sumpf auszutrocknen, muss man seine Ausdehnung kennen. Und so beginnt jetzt ein seltsames Spiel: wer findet bislang unbekannte Schulden? Hier taucht nochmals eine gewisse Übereinstimmung zum Jahr 2004 auf. Bei kaum einer anderen Tätigkeit sind Finanzpolitiker so erfinderisch wie bei der Einrichtung von Schattenbudgets, Zusatzetats und versteckten Sonderkassen. Für die römischen Finanzkontrolleure bedeutete das konkret: Berge finden. Monti, also Berge nämlich hießen die öffentlichen Schuldaufnahmen, mittels deren Rom in fünf viertel Jahrhunderten seine Nepoten, seine Bauten und seine Kriege finanziert hatte. Ein solcher ‘Berg’ bestand aus einer Pauschalanleihe, meistens in der Größenordnung von einhunderttausend bis einer Million scudi (zum Vergleich: ein Handwerker verdient um die Mitte des 17. Jh. jährlich etwa sechzig bis siebzig scudi), welche in der Regel von einem Bankenkonsortium en bloc übernommen, also vorgestreckt wird. In Zeiten extremer Geldnot – also im Normalfall – zahlt der Kreditgeber jedoch nicht den Nennwert, sondern einen durch ein so genanntes Disagio, einen Abschlag, niedrigeren Wert; Rabatte von bis zu zehn Prozent sind durchaus üblich. Mit anderen Worten: das Papsttum bekommt dann beispielsweise statt einer Million nur 900000 scudi ausbezahlt, hat aber für den vollen Betrag die Zinsen zu zahlen.

      Auf der Seite der Banken aber tun sich verlockende Gewinnspannen auf. Denn die meist billig erstandenen Großanleihen ließen sich in vielfältig gestückelter Form lukrativ absetzen. Aufgeteilt in „Bergorte“ von hundert scudi, waren diese römischen Staatsschatzbriefe auch und gerade für den Kleinsparer attraktiv. Und wenn das Familienvermögen nicht reichte, dann tat man sich mit Verwandten, Freunden oder Nachbarn zusammen – und lebte als glücklicher Rentier von deren Erträgen bis ans Lebensende. Noch Giacomo Casanova versorgt seine abgelegten Mätressen zwecks Verheiratung mit solchen Kleinrenten. Die ideale Mitgift waren sie nicht zuletzt aufgrund der päpstlichen Zahlungsmoral. СКАЧАТЬ