Название: Aufrichten in Würde
Автор: Gabriele Frick-Baer
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783934933392
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Sexuelle Gewalt ist erniedrigend, der Weg des Verarbeitens und der Loslösung aus dem Trauma ist ein Weg des Aufrichtens. Auch andere traumatische Erfahrungen, denen Gewalt und der Verlust des Vertrauens und Selbstvertrauens innewohnt, führen zu Gefühlen der Erniedrigung, der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins; auch die hiervon Betroffenen brauchen den Weg des Aufrichtens.
Aufrichten ist das Erleben, aus der Ohnmacht und Erstarrung wieder in Bewegung zu kommen, sich wieder rühren zu können. Aufrichten ist das Erleben, wieder zu stehen, wieder den Kopf zu heben, wieder der Welt in die Augen zu sehen.
Aufrichten heißt, sich körperlich wieder als durchlässig zu spüren, von unten nach oben und von oben nach unten, den Körper bzw. das Körperempfinden als zu sich selbst gehörend, als eigen, zurückzugewinnen.
Aufrichten ist der Prozess, aufrichtig werden zu können, mit sich und mit anderen, durch das Misstrauen, die Angst und die Scham hindurch und mit Misstrauen, Angst und Scham.
Aufrichten bedeutet zu spüren, wer das ist, wenn „ich ‚Ich’ sage“.
Aufrichten braucht einen Boden, auf dem ein Mensch stehen kann.
Aufrichten braucht Rückendeckung und ein aufrichtiges bzw. aufrichtige Gegenüber und eine Umgebung, die Freiheit für die Entwicklung von Eigen-Sein ermöglicht und Halt gibt.
In Würde aufrichten bedeutet nicht, sich aufzurichten um jeden Preis, sondern bedeutet auch, sich wegducken zu können, wenn es hilfreich ist, um sich zu schützen. Kämpfen, sich wehren, fliehen, sich verstecken, sich erwärmen für bestimmte wohltuende Menschen und anderen die kalte Schulter zeigen, all das kann „in Würde aufrichten“ beinhalten. Nicht verhärten, sondern Härte zeigen gegen Entwürdigung. Nicht zerfließen, aber weich bleiben oder weich werden.
Diese Leitorientierung hilft uns Therapeut/innen. Sie hilft auch den Menschen, mit denen wir arbeiten. Sie und wir stellen uns bei schwierigen Entscheidungen die Frage: Hilft die mögliche Lösung genau diesem bestimmten Menschen, sich in Würde aufzurichten, oder nicht? Hilft es z. B. diesem einzelnen Menschen zum Wiedererlangen seiner Würde, vor den Täter hinzutreten und ihn anzuklagen? Oder würde die Würde, die Aufrichtigkeit, eher an der Härte und grausamen Uneinsichtigkeit des Gegenübers zerschellen?
Wir achten die Kompetenz der Klient/innen zu entscheiden, welchen Schritt in der Therapie, in der Traumabewältigung sie gehen können und wollen. Die Haltung der Klient/innen-Kompetenz ist eine Voraussetzung dafür, den Weg des Aufrichtens zu beschreiten. Bevormundung, mag sie noch so gut gemeint sein, erniedrigt oder hält unten. Zu ermutigen und zu stützen, was oft und gerade in der Arbeit mit traumatisierten Menschen nötig ist, mit Erfahrungen, Meinungen und Ideen zur Bewältigung nicht hinter dem Berg zu halten, sondern sie den Klient/innen zur Verfügung zu stellen, damit sie für sie Sinnvolles auswählen können, ist etwas anderes als Bevormundung. Doch dazu später.
Der Prozess des Aufrichtens bedarf der Begleitung und des Halts. Wenn Menschen sexuelle Gewalt erfahren oder andere traumatisierende Situationen durchleben mussten, waren sie und fühlten sie sich allein. Und nach solchen Erfahrungen wurden sie erst recht oft allein gelassen, wurden sie nicht gesehen und nicht gehört, sollte allzu oft der Mantel des Schweigens über das Geschehene, über das Leiden ausgebreitet werden. Besonders, wenn dem „kindlichen Ich“ Gewalt angetan wurde und wird, versteht es die Welt nicht mehr und verliert jedes Verständnis für sich im Bezug zur Welt. Wenn dann niemand da ist, der oder die das Geschehene zurechtrückt, Täter und Opfer als solche benennt, das Unfassbare begreifbar macht, bleibt das Verständnis und Selbstverständnis auf der Strecke.
Wer kein Verständnis erlebt, kann auch kein Verständnis für sich gewinnen. Viele Opfer sexueller Gewalt haben nicht nur die Erinnerung an das traumatische Geschehen oder Teile davon verdrängt, sondern auch das Verständnis für sich verloren. „Verständnis“ beinhaltet „Verstehen“: warum sie so sind, wie sie sind; warum sie so handeln, wie sie handeln; warum sie so fühlen, wie sie fühlen. Das Ringen um Verstehen, die Suche nach Verständnis, ist oft ein verzweifelter Prozess auf Seiten der Klient/innen. Wir Therapeut/innen haben es viel leichter mit dem Verstehen: Was sich für uns als folgerichtiges Lebensmuster aus der erfahrenen Traumatisierung darstellt, was uns zutiefst verständlich ist, ist für die Klient/innen alles andere als selbstverständlich. Das müssen wir wissen und beachten und in diesem Prozess müssen wir beharrliche Anwälte des Verstehens bleiben. „Verständnis“ meint noch etwas, was über Verstehen hinaus geht: das Mitgefühl. Und das ist den traumatisierten Klient/innen oft verloren gegangen – wohlgemerkt: nicht das Mitgefühl für andere, aber das Mitgefühl für sich selbst. Mit neutraler Stimme und unbeteiligter Miene erzählen sie von dem Schrecklichen und Erniedrigenden, das ihnen widerfahren ist, als ob es das Normalste von der Welt wäre.
Erst wenn wir als Therapeut/innen und beteiligte Menschen Mitgefühl für ihr Leiden zeigen, kann ein Prozess beginnen, in dem sie selbst Mitgefühl für sich und für das Kind oder die junge Heranwachsende, die sie einmal waren, und für die, die sie heute sind, entwickeln.
Dieses Buch handelt von Verständnis in diesem doppelten Sinn. Es ist zwar auch aus Forschungsaktivitäten (qualitative Interviews mit traumatisierten Menschen und systematischer Auswertung von Therapieprozessen) entstanden, vor allem aber ist es Resultat des gemeinsamen Ringens um Verständnis. Das meiste, was ich gelernt habe und in diesem Buch weitergeben möchte, habe ich in den Begegnungen mit den Klient/innen gelernt.
Verständnis ist der Beginn des Aufrichtens, ein weiterer und oft schwieriger Weg folgt. Ich bitte die Klient/innen immer wieder zu überprüfen: „Ist der Weg, den wir einschlagen, immer noch der richtige für Sie?“ Der Weg des Aufrichtens braucht Pausen und Innehalten genauso wie mutige Sprünge nach vorn. Er beschäftigt sich mit dem Hier und Jetzt des Alltagslebens und er führt zur Begegnung mit dem Schrecken des Erfahrenen. Dieser Weg braucht Zuversicht. Manchmal, wenn der Klientin oder dem Klienten die Zuversicht zeitweilig abhanden kommt, bin ich es, die stellvertretend für sie die Zuversicht hat und hält. In einer vertrauensvollen Beziehung ist das manchmal und phasenweise der einzige Lichtblick und Orientierungspunkt in Verwirrung, Verzweiflung und Dunkelheit.
Mein Leitsatz, der es mir möglich macht, Menschen auf diesem Weg durch den Schrecken zu begleiten, lautet:
„Schrecklicher als damals, nicht einmal so schrecklich wie damals, kann es nicht werden. Denn jetzt sind Sie nicht mehr allein damit. Jetzt passe ich auf, dass Ihnen nichts passiert.“
Wenn wir diesen Satz einer Klientin oder einem Klienten sagen und aufrichtig meinen, hat er Wirkung. Zum Schrecken des Traumas, hilflos sexueller Gewalt ausgeliefert gewesen zu sein, kommt und kam vor allem der Schrecken des Alleinseins und des Alleingelassen-Werdens. Dies zu durchbrechen, Halt und Unterstützung anzubieten und mitfühlende Begleitung in den Dienst der therapeutischen Arbeit zu stellen, hilft beim Prozess des Aufrichtens und ist somit ein zentraler Leitsatz meiner Arbeit und der meiner Kolleg/innen.
Am Herzen liegt mir und uns ferner:
Wir stehen auf der Seite der Menschen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, mitfühlend und parteilich, unterstützend und aufrichtend. Das sollte selbstverständlich sein, ist es aber leider nicht.
Wir betrachten die Folgen traumatischen Erlebens, wie z. B. Dissoziationen, nicht als Krankheit, sondern als eine produktive, kreative СКАЧАТЬ