Название: Die Spur des Wolfes
Автор: Günter Huth
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783429062552
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Die Waldarbeiterhütte stand ein Stück abseits von einem schmalen Forstweg, am Rande einer Fichtenkultur. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren die Bäume kaum drei Meter hoch. In den Jahren, die er im Knast verbracht hatte, waren die schnellwüchsigen Bäume ein ganzes Stück in die Höhe geschossen. Die Hütte hob sich von dem dunklen Hintergrund der tiefgrünen Zweige kaum ab. Der geflohene Sträfling blieb eine ganze Zeit lang hinter dem Stamm einer dicken Buche verborgen stehen und beobachtete die Umgebung. Alles war ruhig, keine Menschenseele zu sehen. Auch die Vögel zeigten keinerlei Anzeichen von Beunruhigung. Etwas träge zwitscherten sie in der dumpfen Schwüle. Schließlich verließ Hasenstamm seine Deckung und näherte sich dem Eingang. Er zog nicht einmal seine Schusswaffe, da er fest überzeugt war, dass hier keine Gefahr auf ihn lauerte. Seine Verfolger konnten unmöglich schon hier sein.
Die im Blockhausstil gebaute Behausung war außen schon stark verwittert, was auf ihr hohes Alter schließen ließ. Das aus Teerpappe bestehende Dach zeigte eine dicke Moosschicht, die lediglich um das Kaminrohr, das nach oben herausstand, unterbrochen war. Links vom Eingang stapelte sich entlang der Hüttenwand ordentlich aufgeschichtetes Feuerholz. Darüber befanden sich die geschlossenen Holzläden eines Fensters. Hasenstamm musterte den von Fichtennadeln bedeckten Waldboden in der Nähe des Eingangs. Keine Anzeichen von Fußspuren. Jetzt galt es nur noch das dicke Vorhängeschloss am Eingang zu beseitigen. Der Bügel des Schlosses war durch zwei Löcher des angerosteten Riegels geführt, der dadurch nicht zurückgeschoben werden konnte. Der Riegel war mit der Tür und dem Rahmen verschraubt. Die Schrauben waren ebenfalls verrostet, das Holz, das sie hielt, porös. Hasenstamm hätte den Riegel ohne Probleme mit einem der Holzscheite abschlagen können, das hätte aber auffällige Spuren hinterlassen. Er griff in die Hosentasche und zog das feststellbare Klappmesser heraus, das er dem Vollzugsbeamten abgenommen hatte. Er klappte es auf. Die Schneide der einseitig geschliffenen Klinge war sehr scharf. Hasenstamm drückte die stumpfe, hinter der Spitze liegende Rückseite des Messers in den Schlitz einer der Schrauben. Vorsichtig übte er Druck aus und begann zu drehen. Es ging erstaunlich leicht. Zwei Minuten später war der Riegel mitsamt Schloss entfernt und die Tür ließ sich mit einem protestierenden Quietschen öffnen. Langsam trat er ein. Dabei musste er sich bücken, um nicht gegen den oberen Türstock zu stoßen. Im Raum roch es dumpf und modrig. Nachdem er einen Schritt weitergegangen war, hörte er hinter sich ein Rascheln. Als er herumwirbelte, konnte er gerade noch eine Maus erkennen, die fluchtartig ihr bisher so störungsfreies Domizil verließ. Durch das Licht, das durch die offene Tür kam, konnte er die Einrichtung erkennen. Ein grober Tisch, eine Eckbank, die irgendwo ausrangiert worden war, und mehrere Holzstühle bildeten die Grundausstattung. In der Ecke stand ein alter Kanonenofen. An die Wand gelehnt zwei zusammengeklappte Schlafpritschen aus Militärbeständen. Unter der Eckbank entdeckte er einen Haufen alte Blätter. Anscheinend der Unterschlupf der Maus. Diese Nager fanden immer einen Zugang.
Da Hasenstamm den Fensterladen nicht öffnen wollte, ließ er die Tür offen. Mit einem Ruck schob er den Tisch nach vorne und öffnete den Deckel der tiefen Truhe der Eckbank. Seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Mit einem zufriedenen Knurren zog er mehrere Kleidungsstücke heraus, die allesamt schon bessere Tage gesehen hatten. Anscheinend hatten die Mäuse noch keinen Weg in die Truhe gefunden, denn die Sachen waren nicht angefressen. Ein warmer Parka mit Innenfutter zeigte zwar einen Riss am Ärmel, der war aber zu vernachlässigen. Schließlich wollte er nicht auf eine Modenschau. Zwei unterschiedlich große, stark verdreckte Schnittschutzhosen mit Latz und Hosenträgern, wie sie Holzfäller bei der Arbeit mit Motorsägen trugen, kamen unter einer alten Wolldecke zum Vorschein. Dabei eine speckige Basecap mit dem Emblem eines bekannten Motorsägenherstellers. Zwischen den Kleidungsstücken steckten mehrere dicke, wollene Socken und einige Arbeitshandschuhe. Obenauf, in einer Plastiktüte, fand er ein paar verblichene Joggingschuhe. Die Größenangabe auf dem groben, stark abgenutzten Profil der Sohle war nicht mehr zu erkennen. Hasenstamm setzte sich und hielt einen Schuh gegen die Sohle seines Straßenschuhs. Wahrscheinlich eine Nummer zu groß, aber dem konnte man abhelfen. Er zog sich aus und probierte die größere der Hosen. Zum Glück hatten die Schutzhosen keine signalfarbenen Einsätze. Die Hose war ein paar Zentimeter zu kurz, dafür etwas zu weit. Aber das war mit den Hosenträgern problemlos zu regulieren. Er fand zwei passende Socken, die zwar stark getragen wirkten, aber trocken waren. Er zog sie an, dann schlüpfte er in die Joggingschuhe, die er vorher mit Blättern der vergilbten Zeitung ausgestopft hatte, die neben dem Ofen lag. Einen Moment dachte er darüber nach, ob er die abgelegte Kleidung im Ofen verbrennen sollte, verzichtete dann aber darauf. Der Rauch aus dem Kamin würde weit durch den Wald ziehen und zu riechen sein. Er bündelte das Jackett, die Hose, Schuhe und die Socken zusammen, nachdem er die Pistole vorne in die Tasche des Brustlatzes gesteckt und das Messer in der Hosentasche verschwinden lassen hatte. Er warf die Truhe zu und rückte den Tisch wieder zurecht. Dann packte er das Bündel und verließ die Hütte. Ohne Probleme konnte er den Riegel wieder verschrauben. Er schmierte etwas Erde auf die Schlitze der Schrauben, da an den Stellen, wo er das Messer angesetzt hatte, blanke Stellen zu sehen waren. Er fuhr mit den Fingerspitzen über den Fichtennadelteppich vor dem Eingang und verwischte damit jeden Schuhabdruck. Schon war von außen nichts mehr von seinem Besuch zu sehen. Sein Aufenthalt hatte knapp zwanzig Minuten gedauert. Zügig marschierte er weiter.
Erst in der späten Abenddämmerung traute sich die Maus wieder in die Hütte zurück.
Hasenstamm orientierte sich immer wieder am Stand der Sonne, wenn er sie durch das Blätterdach sehen konnte. Noch zwei Stunden Fußmarsch, dann hatte er das Gebiet erreicht, in dem er sich die nächsten zwei Wochen verstecken wollte. Obwohl ihm unter dem Parka sehr warm war, fühlte sich Wolfgang Hasenstamm von Minute zu Minute besser. Die letzten fünf Jahre im Knast waren für ihn, der es von Jugend an gewohnt gewesen war, sich ständig in freier Natur zu bewegen, eine schreckliche Qual gewesen. Eingeengt in die Zelle und den monotonen Knastalltag, begrenzt von Gittern, jeder seiner Schritte bewacht, war er einmal kurz davor gewesen, sich das Leben zu nehmen. Auch wenn er sich diese Verzweiflung nach außen nicht hatte anmerken lassen. Etwas Abwechslung brachte die Arbeit in der anstaltseigenen Schreinerei, für die man ihn als Zimmermann eingeteilt hatte. Gelegentlich besuchten ihn seine Eltern. Sie konnten auch gleich zu Beginn seiner Haft seine Sorge beruhigen, die seinem Wolfshund galt. Sie berichteten ihm, bis jetzt nichts von dem Schicksal des Grauen gehört zu haben. Er war und blieb verschwunden. Wolfgang Hasenstamm machte sich keine Sorgen, der große Rüde kam sehr gut alleine klar und war auch gewitzt genug, um nicht in irgendwelche Fallen zu tappen.
Später blieb sein Vater den Besuchen fern. Seine Mutter berichtete ihm, dass es ihm sehr schlecht gehe.
Während des Prozesses hatte man bei ihm einen Prostatakrebs diagnostiziert, der nicht mehr operiert werden konnte. Deshalb nahm Wolfgang Hasenstamm bei der Gerichtsverhandlung alle Schuld bezüglich des toten Försters auf sich. Zwischen ihm und seinem Vater bestand eine besondere Beziehung und er wollte nicht, dass sein Vater im Gefängnis sterben musste.
Vor einem Dreivierteljahr besuchte ihn dann sein Vater zum letzten Mal. Diesen Besuch würde er nie vergessen. Richard Hasenstamm war alleine gekommen. Der Mann war nur Haut und Knochen. An einem etwas abseits gelegenen Tisch nahmen sie einander gegenüber Platz. Quer über den Tisch verlief eine etwa dreißig Zentimeter hohe Trennwand, so dass sich ihre Hände nicht berühren konnten. Im Raum verteilt saßen an strategisch günstigen Punkten mehrere Vollzugsbeamte, die scharf darauf achteten, dass keine Gegenstände ausgetauscht wurden. Trotz dieser Überwachung gelang ihnen so etwas wie Intimität.
„Junge“, begann Richard Hasenstamm mit leiser Stimme. Alleine dieses Wort enthielt so viele ungewohnte Emotionen, dass Wolfgang sofort hellhörig wurde. Gefühle zu zeigen war in der Familie nicht üblich.
„Jetzt red schon!“, forderte Wolfgang ihn auf, da ihn die Atmosphäre belastete.
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