Название: Die Spur des Wolfes
Автор: Günter Huth
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783429062552
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Fünf Jahre später
Es war kurz vor vierzehn Uhr. Ein wolkenloser, heißer Sommertag ließ die Temperatur fast auf vierzig Grad steigen. Der Friedhof am Rande der kleinen Spessartgemeinde Wiesmühl lag direkt hinter der Kirche St. Raphael, in einem durch eine dichte Hecke begrenzten Areal. Nach Osten hin, nur knapp hundert Meter von der Umgrenzung entfernt, war in der flirrenden Luft die dunkle Wand des Waldrandes zu erkennen.
Die letzte Ruhestätte der Familie Hasenstamm lag in der südöstlichen Ecke des Friedhofs, direkt neben der Hainbuchenhecke. Der Erdaushub rund um das frische Grab war mit einer grünen Plane abgedeckt. Einige Buchsbäumchen in Pflanztöpfen und mehrere Flammenschalen auf metallenen Ständern gaben dem Ort eine gewisse Feierlichkeit. Im Augenblick lag das offene Grab noch verlassen da.
Der neutrale, grüne VW-Bus parkte auf dem kleinen Parkplatz in der Nähe des Eingangs des Kirchhofs. Der Motor war aus. Der Fahrer saß hinter dem Steuer und starrte gelangweilt auf das geschlossene Kirchenportal. In dem mit einem Gitter abgetrennten Fahrgastraum saßen auf der mittleren Rückbank drei Männer. Zwei, wie der Fahrer, in die Uniform von Strafvollzugsbeamten gekleidet. Die beiden Beamten klemmten einen Zivilisten mit ihren kräftigen Figuren regelrecht zwischen sich ein. Seine mit Handschellen zusammengeschlossenen Hände lagen locker in seinem Schoß. Die etwa dreißig Zentimeter lange Verbindungskette ließ ihm etwas Spielraum. Der hagere Gefangene, dessen Alter sich irgendwo in Richtung vierzig bewegen durfte, lehnte den Kopf ganz entspannt rückwärts gegen die Kopfstütze und hielt die Augen geschlossen. Er schien zu schlafen. Doch seine beiden Bewacher ließen sich durch dieses Verhalten nicht in Sicherheit wiegen. Der Mann, für den sie bei diesem genehmigten Ausgang verantwortlich waren, war nicht ganz ungefährlich. Vor fünf Jahren war er vom Schwurgericht wegen Totschlags in einem Fall und schwerer Jagdwilderei in mehreren Fällen zu dreizehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Staatsanwaltschaft hatte seinerzeit auch wegen des Verdachts des Mordes gegen ihn ermittelt, konnte ihm diesen aber nicht nachweisen, so dass es bei Totschlag blieb. Während der Strafverbüßung hatte sich der Strafgefangene aus Sicht der Gefängnisverwaltung weitgehend unauffällig verhalten.
Vor zwei Tagen nun hatte die Anstaltsleitung dem Verurteilten Wolfgang Hasenstamm, auf seinen Eilantrag hin, diese bewachte Ausführung genehmigt, damit er an der Beisetzung seines kürzlich verstorbenen Vaters teilnehmen konnte. Zu diesem Zweck hatte man ihm gestattet, die Anstaltskleidung, die er als Strafgefangener normalerweise tragen musste, gegen den Anzug einzutauschen, den er während seines Gerichtsprozesses getragen hatte.
Unvermittelt begann die Totenglocke der Kirche zu läuten. Gleichzeitig öffneten sich die beiden Flügel der Tür von St. Raphael. Zwei Ministranten und ein Priester traten heraus. Diesen folgte eine fahrbare Bahre mit einem Sarg darauf, die von vier Männern in dunklen Anzügen geschoben wurde. Hinter dem Sarg schritten zwei alte, in Schwarz gekleidete Frauen, die kleine Blumengebinde in den Händen hielten. Die Trauerprozession bog auf den Friedhof ein und passierte dort die schmiedeeiserne Pforte.
In die Männer im Transporter kam Bewegung. „Auf geht’s!“, kommandierte einer der Beamten, worauf der andere die Schiebetür des VW-Busses öffnete und ausstieg. Er drehte sich um und fasste den Gefangenen am Arm, um ihm aus den Wagen zu helfen. Hasenstamm lehnte die Hilfe mit einer eindeutigen Körperbewegung ab. Mit einem elastischen Sprung stand er auf dem Boden und streckte sich leicht. Jetzt konnte man sehen, dass er die beiden Beamten um einen ganzen Kopf überragte. Er war drahtig, mit einem scharf geschnittenen Gesicht. Sein Haar trug er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Gefangene hielt den Beamten seine gefesselten Hände hin. In dieser Geste lag eine Aufforderung. Der zuletzt ausgestiegene Vollzugsbeamte, offensichtlich der Chef der Gruppe, schüttelte jedoch entschieden den Kopf.
„Tut mir leid, Hasenstamm, aber die Handschellen müssen dran bleiben. – Anordnung der Anstaltsleitung“, ergänzte er. Nach kurzer Überlegung zog er seinen Dienstblouson aus. Jetzt war sein Einsatzgürtel mit Dienstpistole, Pfefferspray, zusammengeschobenem Schlagstock und Tasche für die Handschellen sichtbar. Ein in einer geschlossenen Scheide steckendes Klappmesser vervollständigte die Ausrüstung. Daneben hing an einem Karabinerhaken der Schlüssel für die Handfesseln. Er legte die Jacke wortlos über die Handschellen des Gefangenen, so dass diese fast völlig verdeckt waren. Dann fassten die beiden Männer den Gefangenen rechts und links an den Ellbogen und führten ihn hinter dem Trauerzug her. Eine der beiden Frauen, Hasenstamms Mutter, blieb kurz stehen und machte Anstalten, zu diesem zu gehen. Die andere hielt sie jedoch mit hartem Griff am Arm zurück, dabei warf sie Hasenstamm und den Wärtern unverhohlen böse Blicke zu.
Nachdem der Priester alle rituellen Handlungen und Gebete vollzogen hatte, senkten die vier Männer in Schwarz den Sarg in die Grube. Sie verneigten sich kurz, dann verließen sie mit der Rollbahre den Friedhof.
Der Priester betrachtete mit ausdrucksloser Miene die wenigen Trauernden. Kritisch musterte er die Schusswaffen der beiden Beamten. Schließlich trat er auf die beiden Frauen zu, gab ihnen die Hand und murmelte dabei einige Worte des Beileids. Anschließend fiel sein Blick auf Hasenstamm. Er zögerte eine Sekunde, gab sich dann einen innerlichen Ruck und streckte langsam dem Gefangenen seine Hand entgegen. Doch Hasenstamm sah ihn nur durchdringend an, als wäre er gar nicht vorhanden, und ignorierte die Geste.
Schließlich zog der Priester seine Hand wieder zurück, murmelte ein pflichtschuldiges „Mein Beileid“ und verließ gemessenen Schrittes, mit den Ministranten vorweg, den Friedhof.
Die beiden Frauen standen einen Augenblick unschlüssig vor dem Grab. Schließlich traten sie nach vorne. Die Witwe ergriff die armlange Schaufel, die in einer Tonschale mit Erde steckte, und warf polternd drei kleine Portionen Erdreich auf den Sarg. Die zweite tat es ihr nach, dann drehten sie sich um. Hasenstamms Mutter blieb vor dem Gefangenen stehen, dann löste sie sich aus dem Griff ihrer Begleiterin.
„Ach, mein Junge“, stieß sie hervor und fiel ihm schluchzend um den Hals. Einer der Beamten ließ sie einen Moment gewähren, dann legte er vorsichtig seinen Arm um ihre Schulter und meinte leise, aber bestimmt: „Frau Hasenstamm, bitte keine körperlichen Berührungen.“
Hasenstamm warf ihm einen eisigen Blick zu, dann schob er seine Mutter langsam von sich. „Mutter, ist ja gut. Jetzt hat er es überstanden.“
Die andere Frau ergriff die weinende Mutter und zog sie weg. „Lass uns gehen“, stieß sie hart hervor. Dabei musste sie an Hasenstamm vorbei, der wie versteinert zwischen den Wärtern stand. Plötzlich drehte sie ihren Kopf und spukte ihm vor die Füße. Dabei stieß sie halblaut einige Worte aus, die für die Umstehenden kaum zu verstehen waren. Hasenstamm zuckte kurz zusammen, dann hatte er sich aber wieder im Griff. Ihre Reaktion verwunderte ihn nicht. Diese Frau war die ältere Schwester seines Vaters. Sie hasste ihn, weil sie der Meinung war, er trage Schuld an dem Drama der Familie. Deshalb hatte sie im Strafprozess auch gegen ihren Neffen ausgesagt. Energisch führte sie Hasenstamms Mutter in Richtung Ausgang.
Die Beamten hatten sich bei der Attacke kurz angespannt und ihren Griff verfestigt. Als ihr Gefangener aber keine sichtbare Reaktion zeigte, entspannten sie sich wieder.
„Du kannst jetzt kurz Abschied nehmen“, erklärte der verantwortliche Wärter zu seiner Rechten leise, „dann müssen wir wieder los.“
Hasenstamm reichte dem Mann seine Jacke zurück, dann trat СКАЧАТЬ