Название: Die Täuschung
Автор: Norbert Lüdecke
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783806244120
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Damit waren jedoch die Erschütterungen nicht zu verhindern, die von der Enzyklika „Humanae Vitae“ vom 25. Juli 1968 ausgelöst wurden. Viele Laien wie Priester lehnten die Entscheidung des Papstes rundweg ab. Die einen sammelten sich zu Protestaktionen oder richteten öffentliche Appelle an die Bischöfe, den Papst umzustimmen. Andere emanzipierten sich gänzlich von einer Gewissensjustierung durch die kirchliche Autorität. Manche Priester waren froh, dass ihre mühsame Treue zur Lehre im Beichtstuhl nicht vergebens gewesen war, sondern bestätigt wurde. Die anderen hatten schon bisher den Gläubigen die Entscheidung überlassen und sahen sich außerstande, der Enzyklika zu folgen und bei der geistlichen Führung der Eheleute ein Vorbild des Gehorsams zu sein. Versetzt formierten sich auch Gruppen zur Unterstützung des Papstes und seiner Lehre.81
Der Katholikentag in Essen vom 4. bis 8. September 196882 zeigte, dass der aufgestaute Hochdruck zum gefährlichen Überdruck zu werden drohte. Die Enzyklika wurde zum Katalysator der innerkirchlichen Kritik, in der die allgemeine Infragestellung von Autoritäten auch vor den kirchlichen nicht mehr haltmachte. Statt der gewohnten bischofsergebenen Laiengroßveranstaltung, die sich aus Kircheninterna heraushielt, waren jetzt durch die Studentenbewegung geschulte junge Leute zu erleben, die mit Spruchbändern wie „sich beugen und zeugen“ oder „sündig statt mündig“83 ihren Status als katholische Gläubige angesichts der päpstlichen „Verkehrsregel“ ironisierten.84 Ein organisierter „Kritischer Katholizismus“ trat auf als „Katholische außerparlamentarische Opposition (KAPO)“ oder „Außerhierarchische Opposition (AHO)“85. Ein bezeichnendes äußeres Detail berichtete der Jesuitenpublizist Mario von Galli:
„Als ich vor meiner Katholikentagsrede wartend am Rand der Tribüne stand, drängelten sich plötzlich durch die dichte Menschenmenge – einen Platz suchend – Kardinal Döpfner und Weihbischof Angershausen. Offenbar hatten sie vermutet, oben auf der Tribüne – so wie es früher üblich war – für kirchliche Würdenträger reservierte Stühle zu finden. Es gab aber keine. Nur die Jazz-Musik war da angesiedelt und das Rednerpult“86.
Die schon länger dauernde politisch-soziologische Debatte um die sogenannte zweite Demokratisierung, nämlich nach der des Staates 1945 nun die der gesamten Gesellschaft, griff auch auf die Kirche über und fand auf dem diskussionsoffen angelegten Katholikentag ein geeignetes Forum. Der Ruf nach innerkirchlicher Demokratisierung hatte auch den Mainstream-Katholizismus erreicht. So konnte vor der Delegiertenversammlung der katholischen Verbände Deutschlands verlangt werden, die
„Laien an allen wichtigen Willensbildungsprozessen zu beteiligen … In diesem Zusammenhang muß die Kirche begreifen, daß es nicht um die Verwirklichung laizistischer Machtansprüche, sondern um die Verwirklichung der Forderung nach vollständiger Inpflichtnahme eines mündigen Volkes Gottes geht“87.
Mitwirkung nicht mehr als unverbindliches Gespräch miteinander, kein Meinungsaustausch als Sandkastenspiel, stattdessen geregelte demokratische Verfahren mit verbindlichen Ergebnissen: Im Ruf nach einem „Nationalkonzil“, auf dem alle katholischen Gruppen entscheidungsberechtigt sein sollten, bündelte sich die Forderung nach einer Demokratisierung der kirchlichen Strukturen.88 Damit war die Systemfrage gestellt, und nicht nur die Hierarchie alarmiert. Der Essener Katholikentag wird als „Aufstand der Laien“89, seine Zeit als „Sturmjahre“ erinnert.90 Von Kardinal Frings ist überliefert, „die ganze Nazizeit habe ihm nicht so zugesetzt wie die Nachkonzilszeit“91.
Can’t beat them? Join them!
Für den Episkopat stellte sich die Frage, wie die offensichtliche Desintegration des deutschen Katholizismus und der kritische Druck akut verringert und auf längere Sicht verlässlich abgebaut werden könnten. Die Vorbereitungsgremien des Katholikentages hatten auf langen Sitzungen darüber beraten, wie die sich zuspitzende Lage im Griff bleiben konnte. Dies gelang weitgehend mit der Strategie, den heranstürmenden Kritikern offene Türen zu bieten, Foren und Diskussionen weit auf zu machen.92 Klar war aber, so der damalige Präsident des Katholikentages, Bernhard Vogel, im Rückblick und in kollaborativer Wir-Form: Geredet werden durfte, jeder Anspruch auf Geltung aber, „stieß auf unseren entschiedenen Widerstand. Wir wollten verhindern, dass aus kirchlicher Meinungsbildung kirchliche Willensbildung wurde. Die … Tradition … als Forum öffentlicher Meinung sollte erhalten bleiben und auch künftig fortbestehen“. Aber: „Aus Katholikentagen sollten nicht Kirchentage werden“93.
Auch die deutschen Bischöfe hatten sich im Vorfeld eilig in Königstein versammelt und mit einer Erklärung den Eindruck erweckt, als könnten Gläubige ausnahmsweise doch gewissensgedeckt empfängnisverhütende Mittel benutzen. Den Bischöfen war klar, dass eine vorbehaltlose Identifizierung mit „Humanae Vitae“ den Totalausverkauf ihrer eigenen Autorität bedeutet hätte. Die „Königsteiner Erklärung“ mit ihrer Komposition aus betonter Loyalität nach oben und der wenigstens impliziten Legitimierung eines Einzeldissenses nach unten dürfte – der Applaus auf dem Katholikentag spricht dafür – als stabilisierendes Ventil funktioniert und unmittelbaren revolutionären Druck abgebaut haben. Das verhinderte Eskalation und brachte wertvolle Zeit, um nach weiteren Möglichkeiten der Befriedung und der Re-Etablierung der kirchlichen Autorität insgesamt zu suchen.94
Die unterschiedlichen Nachbereitungen des Katholikentages machten deutlich: Essen durfte sich nicht wiederholen. Um eine solche Aufstauung und unkontrollierte Entladung von Diskussionsdrang zu verhindern, sollten künftig Gespräch und Diskussion auch zwischen den Katholikentagen auf unterer Ebene möglich sein. Geordnet und überschaubar sollten diskussionsfreudige Katholiken Dampf ablassen können und viele kleine Ventile gefährlichen Druck frühzeitig aus dem Kessel nehmen.95
Auch der Lagebericht Kardinal Döpfners auf der Herbst-Vollversammlung der DBK griff der Sache nach zur Ventiltaktik. Als zentrales Problem machte er die Krise der Autorität aus. Sie sei nicht nur punktuell, sondern grundsätzlich infrage gestellt. Um sie im unveränderlichen Gefüge der Kirche zu bewahren, empfahl er eine Doppelstrategie: Die Autorität solle einerseits kommunikativ ausgeübt werden, sich im Gespräch aktiv, vermittelnd, inhaltlich argumentierend öffnen. Anderseits solle sie als formale, direktive Autorität bewahrt werden, die Form und Gegenstand des Gesprächs bestimmt und begrenzt. Auch den Priestern gegenüber sei sie brüderlich auszuüben, ohne aber im Bedarfsfall auf die ernste Zurechtweisung (correctio fraterna) und gegebenenfalls auf disziplinäre Maßnahmen zu verzichten. Der Kontakt mit der Theologie sei zu intensivieren, um im Austausch etwaigen Gefährdungen vorzubeugen.96 Dass man nötigenfalls zum Eingreifen bereit war, zeigte der damals akute Fall des Religionspädagogen Hubertus Halbfas, dem Kardinal Frings das Nihil obstat für die Berufung an die Pädagogische Hochschule Rheinland in Bonn verweigert hatte und dessen „Fundamentalkatechetik“ von der Bischofskonferenz wegen glaubenswidersprechender und -gefährdender Inhalte öffentlich abgelehnt wurde.97
Für das Zusammenwirken von Klerus und Laien seien Formen zu finden, СКАЧАТЬ