Название: Empathie - Ich fühle, was du fühlst
Автор: Stephanie Red Feather
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783866164949
isbn:
1
Sie sind nicht verrückt
(aber auch nicht „normal“)
Als junges Mädchen von vielleicht acht oder neun Jahren war ich einmal für kurze Zeit allein daheim und aus Gründen, die ich damals nicht verstand, griff ich plötzlich nach einem Messer und rannte laut schreiend vor Wut durch das ganze Haus. Irgendwann legte ich das Messer wieder weg und grub wimmernd die Fingernägel in meine Handflächen, während ich von unbändigen Emotionen überwältigt wurde. Ich starrte aus dem Fenster und schaukelte vor und zurück wie Raymond in dem Film Rain Man.
Abgesehen von den Verletzungen an meinen Handflächen fügte ich weder mir noch dem Inventar im Haus einen Schaden zu, aber der Vorfall erschreckte mich zutiefst. Im Laufe meines weiteren Lebens – und vor allem, ehe ich begriff, dass ich eine Empathin bin – gab es viele ähnliche Vorfälle, wenn auch ohne Messer, in denen ich urplötzlich vor Wut explodierte, hysterisch wurde oder in Kummer versank. Ich schluchzte hemmungslos, stolperte panisch und verloren durch das Haus, wand mich in unbändigem Kummer auf dem Boden oder schrie so laut, dass ich danach tagelang keine Stimme mehr hatte. Die Fingernägel in meine Handflächen zu graben, war das Mittel der Wahl, wenn die Situation es mir nicht erlaubte, zu schreien, zu weinen oder meine Emotionen auf andere Weise offen zum Ausdruck zu bringen.
Diese Episoden dauerten für gewöhnlich nur kurze Zeit – höchstens einige Stunden – an und wenn die Energien abflauten, wurde ich wieder „normal“. Da ich in jüngeren Jahren natürlich nicht wusste, dass ich Empathin bin und weder die Selbstwahrnehmung noch das Verständnis von Energie besaß, das ich heute habe, war ich selten in der Lage, diese „Anfälle“ vorauszusagen. Ich hatte keine Ahnung, dass diese Ausbrüche aufgestaute Emotionen freisetzten, die ich von den Menschen in meiner Umgebung übernommen hatte. Ich konnte nur hoffen, dass niemand sie bemerken würde. Diese Zwischenfälle waren kraftraubend, machten mich handlungsunfähig und gaben mir das Gefühl, völlig die Kontrolle verloren zu haben.
Bis ins Erwachsenenalter hinein hatte ich große Angst, dass mit mir etwas ganz grundlegend nicht in Ordnung war. Es hatte Geisteskrankheiten auf beiden Seiten meiner Familie gegeben und ich glaubte daher, eine doppelte Portion an Geistesgestörtheit mitbekommen zu haben. Durch über viele Jahre praktizierte kritische Achtsamkeit, viele Veränderungen in meiner Lebensweise und eine radikale Selbstfürsorge (auf die ich in späteren Kapiteln noch näher eingehen werde) habe ich inzwischen gelernt, dass ich nicht verrückt oder geistesgestört bin.
Trotzdem gibt es, wenn ich ganz ehrlich sein soll, auch jetzt noch Zeiten, in denen ich von starken Emotionen oder äußeren Reizen überwältigt werde. Das Wissen, dass man eine Empathin ist, macht den Alltag nicht unbedingt einfacher. Das Leben als Empathin und die Fähigkeit, den Alltag erfolgreich zu meistern, fordern ständige Wachsamkeit, wohlüberlegte Entscheidungen (die oftmals den gesellschaftlichen Normen zuwiderlaufen) und eine große und gut bestückte Werkzeugkiste.
Ich habe mit vielen ebenfalls empathischen Klienten und Kursteilnehmern gearbeitet, die ähnliche Erfahrungen gemacht und ähnliche Ängste durchlebt haben. Ihre Fragen spiegelten meine eigenen Fragen wider: „Was stimmt nicht mit mir?“ „Warum ist es für andere Menschen so viel einfacher, mit Emotionen umzugehen?“ „Fühle nur ich so?“ „Gibt es noch jemanden, der so viel weint wie ich?“ „Warum bin ich so anders?“ „Bin ich ein gesellschaftlicher Krüppel?“ „Warum reagiere ich so empfindlich auf jede Kleinigkeit?“ „Bin ich womöglich verrückt?“
Es ist gang und gäbe, dass man immer dann, wenn man in der Minderheit ist, glaubt, derjenige zu sein, der unnormal ist. Unsere Familien haben uns nicht verstanden oder wussten nicht, wie sie uns helfen konnten, und die Botschaften, die sie uns im Laufe unserer Erziehung vermittelt haben, haben die Vorstellung, dass mit uns etwas nicht stimmt, höchstwahrscheinlich noch unterstützt. Wenn Sie in der Familie beispielweise der Einzige sind, der mit Geistern kommuniziert, geben die anderen Familienmitglieder Ihnen meist klar zu verstehen, dass das „nicht normal“ ist und dass Sie damit aufhören sollen. Aus solchen Botschaften schließen wir, dass mit uns etwas grundlegend nicht in Ordnung ist und dass wir unsere „abnormalen“ Qualitäten verleugnen oder verbergen müssen, wenn wir dazugehören, akzeptiert werden, die gleichen Chancen wie alle anderen haben, normal erscheinen und erfolgreich sein wollen.
Dorians Geschichte
Zu Dorians ersten Kindheitserinnerungen gehören finstere, bösartige Wesen, die häufig nachts auftauchten und ihn verhöhnten. Obwohl er sich im ersten oder zweiten Stockwerk des Hauses befand, sah er am Fenster grauenvolle Gesichter, die gegen die Scheiben schlugen und über sein Entsetzen lachten. Meist konnte nur er diese Erscheinungen sehen, aber einmal hämmerten schattenhafte Wesen an alle Fenster des Hauses und er rannte ins Zimmer seiner Mutter, um Geborgenheit bei ihr zu suchen. Wieder konnte nur er allein die Wesen sehen, aber alle anderen hörten sie und wussten, dass etwas vor sich ging. Wenn solche Energien auftraten, spürte Dorian auf körperlicher Ebene einen erstickenden Druck auf der Brust, bekam keine Luft mehr und war wie gelähmt.
Obwohl die anderen Mitglieder der Familie von den Auftritten der „finsteren Wesenheiten“ genug mitbekamen, um sie nicht leugnen zu können, wurde Dorian oft zurückgewiesen und ausgegrenzt. Er wurde von seinem Vater und seinem Bruder gedemütigt, weil er anders und seltsam war, und sein Vater zwang ihn sogar zu einer psychiatrischen Untersuchung. Beide beriefen sich oft auf Logik und erklärten: „Das ist aus logischer Sicht unmöglich.“ Seine Mutter schottete sich gegen die Realität der Vorfälle ab und sagte: „Gott wird sich darum kümmern.“ Dorian erfuhr nie Bestätigung, Trost, Führung oder Akzeptanz für das, was er sah, und für die Wirkung, die es auf ihn hatte. Er war isoliert, abgetrennt und lange Zeit verbittert.
Weil die meisten Menschen anders als wir nicht bewusst empathisch sind und den Ursprung unserer ausgeprägten Sensitivität nicht verstehen, werden wir oft als dünnhäutig, launenhaft, in einer Traumwelt lebend oder sogar als psychisch labil abgetan. Dies geht häufig mit der landläufigen Ansicht einher, dass unser ganzes Leben sich enorm verbessern würde, wenn wir nur endlich erwachsen werden oder ein wenig Rückgrat zeigen wollten. Dorians Geschichte ist typisch, was die Reaktion seiner Familie anbelangt. Wenn die Lösung doch nur so simpel wäre wie das, was wir nach Meinung anderer Menschen „einfach“ tun können sollten.
VON DER AUTHENTIZITÄT ZUR KOMPLIZENSCHAFT
Für die meisten Empathen wird Unterdrückung zur normalen Vorgehensweise. Um in unserer Familie, in der Gesellschaft und in der Welt zurechtzukommen, verbannen wir den Schatz unserer Einzigartigkeit ins Exil. Weil wir keine Führer hatten, um uns zu helfen, wenn unsere empathische Natur zum Ausdruck kam, hat sie uns fast immer in Schwierigkeiten gebracht. Also haben wir unbewusst die Entscheidung getroffen, dass es sicherer ist, sie zu verstecken und so zu tun, als wären wir jemand anderer.
Das war auch bei mir nicht anders.
Ich war ein sehr kreatives und intuitives Kind. Ich zeichnete und malte und machte alle möglichen kunsthandwerklichen Projekte. Ich besuchte eine Schule für darstellende Kunst, wo ich an Gesangswettbewerben teilnahm, Arbeiten in Kunstausstellungen der Schule СКАЧАТЬ