Название: Die Angst vor dem Tod überwinden
Автор: Karim El Souessi
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783866164154
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Ein anderes Mal traf der Alte eine schöne Frau, die ein Kind an der Hand führte. Er begrüßte sie und sagte: ‚Es ist ein schöner Tag heute, so schön wie dein freundliches Antlitz. Du stehst auf dem Gipfel deiner körperlichen Reife. Sicherlich hast du die 30 überschritten. Es sind nur noch so viele oder wenige Jahre und du wirst das Ziel deiner Wanderung erreicht haben. Lebe jeden Tag bewusst und dankbar und mit dem Willen, über dich selbst hinauszuwachsen zur vollen Reife und Beglückung des Alters. Dann werden deine Kinder und Kindeskinder und die Nachbarn in Ehrfurcht zu dir aufblicken und deinen Worten lauschen.’
Dann begegnete der weise, alte Mann einer weißhaarigen Frau, die auf einer Bank saß und in die untergehende Sonne schaute. Ihr Gesicht war von Runzeln durchfurcht, der Mund zahnlos. Der alte Mann blieb stehen und verbeugte sich vor der Greisin, so tief er konnte. ‚Ich beglückwünsche euch. Ihr seid am Ende eures Weges und habt das Ziel erreicht. Ihr tragt die Fülle des in 80 Jahren Erlebten in euch. Von euch strahlt Ruhe, Gelassenheit, Güte, Duldsamkeit, Weisheit und Würde aus. Weil ihr über euch hinausgewachsen seid, sind jetzt eure geringen Handlungen und eure wenigen Worte ähnlich den Zeichen des Himmels.’ Er setzte sich zu ihr auf die Bank und schaute mit ihr in die untergehende Sonne.“42
Pater AMA Samy erzählte in einem seiner Vorträge von einem chinesischen Kaiser, der alle Philosophen des Landes gefragt haben soll, was das Leben sei. Nachdem viel Zeit verstrichen war, brachten sie unzählige Bücher auf sechs Kamelen, die der Kaiser las und las, bis er ein hohes Alter erreicht hatte und feststellen musste, dass noch immer die Bücher von drei Kamelen nicht gelesen waren. Er bat die Philosophen, eine Zusammenfassung zu machen, damit er sie zu Ende lesen konnte. Doch auch die Zusammenfassung war noch so umfangreich, dass er, auf dem Sterbebett liegend, noch immer nicht alles gelesen hatte. In den letzten Tagen seines Lebens bat er um eine noch kürzere Zusammenfassung, worauf die Philosophen empfahlen, einen Zen-Meister zu Rate zu ziehen. Dieser eilte schließlich gerade noch rechtzeitig herbei. Auf die Frage des Kaisers: „Was ist das Leben?“ antwortete er: „Geburt, Alter und Tod“. Nach diesen Worten soll der Kaiser still eingeschlafen sein.43
„Wir glauben und halten fest an unserem Leben, weil wir davon ausgehen, dass sich unser Leben zwischen Geburt und Tod erstreckt. Wir glauben, dass wir während dieser Zeit leben und danach nicht mehr oder in anderer Form. Aber es wäre eine falsche Auffassung zu meinen, unser Leben beginne mit dem Augenblick unserer Geburt und es ende im Augenblick unseres Todes. Während einer sogenannten Lebensspanne gibt es Millionen Geburten und Millionen Tode. Tagtäglich sterben in unserem Körper Zellen – Gehirnzellen, Hautzellen, Blutzellen und viele, viele andere mehr und neue bilden sich. Selbst wenn Sie den Austausch Ihrer Zellen kaum mitbekommen, sind Sie nach kurzer Zeit nicht mehr der, der Sie einmal waren. Auch die Sonnensysteme, unser Sonnensystem, unser Planet sind Körper, die sich unaufhörlich wandeln. Wir und unsere Körperzellen sind nur Zellen dieses Ganzen. Müssen wir jedes Mal weinen, wenn eine Zelle unseres Körpers stirbt? Der Tod ist notwendig, damit Leben in anderer Form sein kann. … Wir lieben dieses eine Leben und wollen es ganz festhalten. Wir fürchten den Tod und wollen uns vor ihm verstecken. Dadurch schaffen wir uns großen Kummer und große Sorgen, doch dies rührt einzig und allein von unserer Auffassung von einer [festen und begrenzten] Lebensspanne“, schrieb der Zen-Mönch Thich Nhat Hanh.44
Der Missionar St. Bonifaz wurde bei einer Unterredung mit dem englischen König, die bis spät in die Nacht dauerte, gefragt, was das Christentum über die Zeit nach dem Tod zu sagen habe. In diesem Augenblick flog ein Vogel durch ein Fenster des Saales, setzte sich kurz auf den Leuchter in der Mitte des Raumes und flog zu einem anderen Fenster wieder hinaus. Bonifaz sagte daraufhin, dass es sich mit der Lebensspanne ebenso verhalte. Sie sei nur ein kurzer Abschnitt in der Zeit, das große Mysterium davor und danach bleibe unbekannt.
6 | Sich sterblich erfahren und neu leben lernen |
In einem seiner Filme sagt Woody Allen: „Nicht, dass ich Angst hätte vor dem Sterben – ich wäre nur gerne nicht dabei, wenn es so weit ist.“ Sterbemeditation geht einen anderen Weg. Sich sterblich erfahren kann ein gutes Mittel sein, nicht nur die Einstellung zum Stress im Alltag zu verändern, sondern auch die Angst vor dem Tod zu meistern. Die Filmemacherin Doris Dörrie schreibt über ihre Methode zur Stressreduktion: „Ich stelle mir den Tod vor, seh mich als Skelett an seiner Seite und frage mich dann selbst als Tote, was ich von dem halte, was ich gerade mache.“ Diese Einstellung führe nicht selten dazu, dass ihr das, was sie gerade meint tun zu müssen, in Anbetracht der kurzen Lebenszeit auf Erden manchmal „ziemlich lächerlich“ erscheint. Zu dieser Einstellung kam sie erst, nachdem ihr Mann 1996 an Leberkrebs verstarb und sie gezwungen war, die Familie allein zu versorgen. Alle Verzweiflung brachte sie schließlich an den Punkt, alle Vernunftgedanken und Appelle über Bord zu werfen und sich zu sagen: „Das Einzige, was für mich stimmte, war: hinsetzen, Klappe halten und auf den Atem achten, sonst nichts.“45
Buddha sagte einmal: „So wie die Schritte des Elefanten gewaltiger sind als die anderer Tiere, ist die Sterbemeditation erhabener als andere Meditationen … Jung und alt, töricht und weise, reich und arm – alle sterben, so wie jeder Tonkrug, groß und klein, gebrannt und ungebrannt, irgendwann zerbricht. Entsprechend endet alles Leben mit dem Tod.“
Der buddhistische Mönch Atisha (980-1055 u.Z.), ein wichtiger Erneuerer des Buddhismus in Tibet, brachte die buddhistische Meditation und Sterbemeditation nach Tibet und entwickelte sie dort weiter. Im tibetischen Buddhismus ist die Meditation über Tod und Vergänglichkeit die dritte von 21 Meditationsweisen. Geshe Gyatsang Gyatso glaubt, dass viele Menschen gerade deshalb, weil sie so stark an weltlichen Dingen und Aktivitäten hängen, das eigene Sterben ausblenden. Dies sei aber „das größte Hindernis bei der Erkenntnis“ der wahren Natur des Seins. „Um dieses Hindernis zu überwinden, sollten wir über den Tod meditieren.“46
Der tibetische Mönch und Meditationslehrer Sogyal Rinpoche verweist darauf, dass man „erst dann angstfrei und in völliger Sicherheit sterben könne, wenn man die wahre Natur des Geistes erfasst habe“; nur diese Erfahrung … und beibehaltene Meditationsübung könne „den Geist im sich auflösenden Chaos des Todes stabil halten. Dann könne man dem Tod mit Freude begegnen.“ Sein Lehrer Dudjom Rinpoche habe oft die Geschichte von einem kranken Yogi erzählt, dessen Arzt wusste, dass es bald zu Ende geht. Der Yogi habe ihn gedrängt, ihm das Schlimmste zu sagen. Zu seiner Verwunderung soll der Yogi ganz begeistert und so voller Vorfreude wie ein kleines Kind auf Weihnachten gewesen sein und ausgerufen haben: „Welch süße Worte, welch freudige Nachricht!“ Danach soll er in den Himmel geblickt haben und auf der Stelle in tiefer Meditation gestorben sein.47
Bei der Sterbemeditation geht es darum, sich dem Unabwendbaren zuzuwenden und sich aus dem Erleben des Getrenntseins von der Schöpfung heraus zu bewegen in eine grenzenlose Seins-Erfahrung, wo wir der Angst vor dem Tod besser begegnen können, ohne sie verdrängen zu müssen. Wenn wir den Tod nicht mehr als Grenze erfahren, bleibt nur noch das Verweilen im Einen. Die irakische Sufi-Heilige Rabi’a al Adawiyya drückte es so aus:
„Ich sehe kein Leiden, ich sehe nur Gott … Ich bedauere nicht das Leid, das ich erfahren habe, ich trauere nur dem Leid nach, das ich nicht habe erfahren dürfen.“48
Sie wehrte sich gegen die Anbetung unnützer Gegenstände, die nichts mit Gott zu tun hätten, und soll ausgerufen haben: „Was nützt mir die Kaaba, wenn ich sie hätte? Das berühmteste Heiligtum dieser Welt – Gott – ist nicht drinnen, er ist nicht draußen. Die Wahrheit ist, dass er sie nicht braucht.“
Johann Wolfgang von Goethe schreibt im „West-Östlichen Diwan“:
„ Und so lang du das nicht hast,
dieses Stirb und Werde,
bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen СКАЧАТЬ