Название: Die Angst vor dem Tod überwinden
Автор: Karim El Souessi
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783866164154
isbn:
Die Wartezimmer beim Arzt sind mir fast so vertraut wie mein Wohnzimmer. Vor wenigen Wochen hat ein Arzt zu meinem Nachbarn, der nur zwei Jahre älter ist als ich, gesagt, in seinem Alter lohne sich die Operation nicht mehr. Aber eines freut mich und zeigt mir, dass ich doch noch nicht so alt bin: Ich bin unverändert kontaktfreudig und lerne jeden Tag neue Menschen kennen. Einige von denen sagen allerdings, sie würden mich schon lange kennen!“
Ist der Mensch erst einmal erwachsen, wiegt er sich gern in dem Glauben, dass es ewig so weitergeht. Das liegt unter anderem daran, dass die Entwicklung der Persönlichkeit bis etwa zum 35. Lebensjahr weitgehend abgeschlossen ist. Im Gehirn ist diese Ich-Funktion vor allem in den Regionen hinter den inneren Augenbrauen lokalisiert. Diese neuronalen Netzwerke machen das Erleben einer eigenständigen Person möglich. Der Mensch erfährt sich als mehr oder weniger stabile Einheit, die sich durch Lebenserfahrung weiter ausformt. Das Gehirn ist, so der Neurowissenschaftler Gerhard Hütter34, eine zeitlebens offene Struktur, die sich im Laufe des Lebens ändert, weiterentwickelt, aber wie andere Körperstrukturen auch dem Alterungsprozess unterworfen ist und Leistungseinbußen erfährt. Anders als bei genetisch determinierten Lebensformen, wie z. B. Insekten, biologisch determinierten, wie Vögel und Säugetiere, die nur in bestimmten Lebensabschnitten lernen, kann das Gehirn eines Menschen bis zum Lebensende lernen, selbst wenn es degenerative Veränderungen bis hin zur Demenz aufweist und dadurch die normale Kommunikation beeinträchtigt. Selbst ein dementer Mensch kann die Frage nach der Freude am Leben noch bejahen. Je trainierter allerdings das Gehirn, so der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, desto länger bleibe die Denkleistung und das Bewusstsein, ein Ich zu besitzen, erhalten.35 Stabile Ich-Funktionen stellen in gewisser Weise ein Dilemma dar: Einerseits sind sie essenziell für die geistige Entwicklung und das Funktionieren in der Gesellschaft, andererseits aber können sie auch die Verhaftung an ein Ich oder Ego verstärken und das Loslassen im Sterbeprozess erschweren.
Der Mensch erlebt den Alterungsprozess durch das Schwinden der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, der Beweglichkeit und der Kondition. Besonders im Vergleich mit anderen kann er erkennen, dass seine körperlichen und geistigen Kräfte nachlassen und sich seine Ansichten über das Leben verändern. Dem Meditationslehrer Larry Rosenberg wurde sein Alter – er war etwas über 60 Jahre alt – erstmals bewusst, als jemand ihm einen Sitz in der U-Bahn anbot, wo doch sonst immer er derjenige war, der anderen seinen Platz angeboten hatte.
Wie ist es bei Ihnen? Wann ist Ihnen zum ersten Mal wirklich aufgefallen, dass Sie zu den Älteren gehören?
Das Nachlassen unserer Energien und – langfristig betrachtet – das Sterben ist mitten unter uns, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Die Anti-Aging-Industrie will uns mit zahllosen Angeboten glauben machen, dass dem nicht so sei. In der Geschichte der Kosmetika und Medikamente wurden schon immer ‚böse’ Stoffe gefunden, die angeblich zum Altern beitragen, und neue Substanzen und ‚Therapien‘ entwickelt, die davor schützen sollten. Abgesehen von Substanzen, die nachweislich gesundheitliches Leid verringern, und solchen, die erwiesenermaßen die Gesundheit schädigen (Rauchen, Alkohol, Drogen) – wäre es nicht besser, das Altern einfach Altern sein zu lassen?
„Gäbe es den Tod nicht – man müsste ihn erfinden! Ein ewiges Leben wäre zum Sterben langweilig: Ohne irgendein Ende gäbe es keinen Anfang und keine Mitte, gäbe es keinen Rhythmus, keine Melodie, kein Motiv, weder Durchführung noch Finale. Ohne Tod wird der Sensenmann zahnlos. Dabei brauchen wir den Zahn der Zeit, der an uns nagt, mal fies an den Gelenken, aber wenn wir hinhören, auch mal liebevoll am Ohrläppchen. … Anstatt sich um lebensverlängernde Zusatzstoffe zu kümmern, ist das Radikalste, was wir tun können, es nicht in der Apotheke zu finden. Wir finden es in der Freude am Leben selbst.“36 Vom Radikalenfänger-Fresser zum bewussten Genießer zu werden, wie Eckard von Hirschhausen vorschlägt, wäre heute wirklich radikal.
Aber der Tod ist allgegenwärtig. Fast 80 Millionen Menschen sterben jährlich auf der Welt. 75 Prozent der Bevölkerung atmen ihren letzten Atemzug in einem Pflegeheim oder Krankenhaus. Alle 45 Minuten bringt sich in Deutschland ein Mensch um.37
Joan Halifax forderte in ihren Hospizkursen die Teilnehmer auf, sich zu überlegen, was das schlimmste Szenario ihres Todes wäre. Vielleicht nehmen Sie sich einmal die Zeit, sich ein solches Szenario im Detail vorzustellen, aufzuschreiben und mit anderen zu besprechen? Wenn Sie damit fertig sind, fragen Sie sich, wie Sie sich jetzt fühlen, wie sich Ihr Körper anfühlt. Was sagt Ihnen Ihr Körper bei einer solchen Vorstellung?
Und dann nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit dafür, sich zu fragen, wie Sie sterben wollen, und spüren nach, wie sich dabei Ihr Körper anfühlt. Vielleicht finden andere Menschen Ihre persönlichen Vorstellungen gar nicht so schrecklich wie Sie selbst, vielleicht haben andere ganz unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen? Vielleicht haben sich aber auch Ihre eigenen Vorstellungen nach der Lektüre dieses Buchs verändert?38
5 | Altern beginnt früher, als man denkt |
Für die meisten Menschen verläuft das Leben auf einer Zielgeraden. Je länger die Linie, desto mehr, glauben sie, haben sie gelebt und desto weniger schrecklich stellen sie sich den Endpunkt vor. Der Tod junger Menschen erfüllt uns daher mit besonderem Schrecken.
In der indianischen Kultur dagegen wird das Leben als Kreis verstanden, der sich in der Pubertät schließt. Indianer sehen einen jungen Menschen bereits als Ganzheit an, die sich nach außen hin entfaltet. Wenn sich der Ring einmal geschlossen hat, stirbt man immer im Zustand der Vollkommenheit, egal wann der Tod eintreten mag. Ganzheit sehen sie nicht in der Dauer der gelebten Zeit, sondern in der Fülle, in der man die Ganzheit eines jeden Augenblicks erlebt. Der Indianer Crazy Horse sagte einmal: „Heute ist ein guter Tag zum Sterben, denn es gibt nichts, was meinem Leben noch fehlt.“39
Haftet man nicht am Leben, macht es keinen Unterschied, ob das Leben kurz oder lang ist (Dschuang Zse, taoistischer Philosoph), denn das Schicksal wendet sich so schnell, wie ein Pferdeschweif wedelt (Buddha).
Der in den 50er Jahren bekannte katholische Religionsphilosoph und Priester Romano Guardini (1885-1968) beklagte schon zu seiner Zeit, dass die Gewichtung unserer Existenz zu sehr „nur im jugendkräftigen Zustand“ liege, dass der Tod ausgeblendet und nur noch als „ein bloßes Negativum“ gesehen werde … Dadurch habe der Tod keinen positiven Wertakzent mehr. Man betrachte ihn nur noch als bloßes „Aufhören“, das dazu noch unter furchterregenden Umständen vor sich geht und, aus dem Blickfeld verdrängt, uns unvorbereitet trifft. Zwischen dem Tod und dem vorausgehenden Leben bestehe keine Verbindung mehr. Der Tod komme also von außen auf den Menschen zu und die Symptome, mit denen er sich in der Phase des hohen Alters ankündigt, würden nicht in den Zusammenhang des Daseins einbezogen, sondern nur erduldet.40
Die Beobachtungen Guardinis sind aktueller denn je, denn die Ignoranz des Sterbens und des Todes begegnet uns in der heutigen Zeit in noch stärkerem Umfang. Eine Gesellschaft, die den Tod verdrängt, so Eckhart Tolle41, muss in die Oberflächlichkeit absinken. Und das ist mittlerweile nicht nur im Westen, sondern zunehmend auf der ganzen Welt der Fall.
Wie aber sollte man das Leben sehen? Eine Geschichte gibt uns die folgende Antwort:
„Ein alter Chinese soll einmal auf seinem Weg ein junges, hübsches Mädchen getroffen haben. Er blieb stehen, schaute es an, verbeugte sich und fragte: ‚Wie alt bist du, mein schönes Kind?’ ‚Ich bin 17 Jahre, mein Herr.’ ‚Du bist schön und du wirst viel Freude im Leben haben. СКАЧАТЬ