Название: Die Reise nach Hause
Автор: Lee Carroll
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783867287166
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Hatte die Krankenschwester nicht gefragt, ob er »Vorab« genannt worden sei? Auf dem Zettel stand Vorab, so als sei es ein Name; ohne Zweifel Buchstabe für Buchstabe diktiert von dem »Engel«, der seine Rechnung bezahlt hatte. Es war jedoch kein Spitzname. Es waren Anfangsbuchstaben! Vo-r-Ab – Von reiner Absicht!* Mikes Lächeln wurde zum Lachen. Es tat fürchterlich weh, aber er lachte und lachte und sein ganzer Körper schüttelte sich vor Glückseligkeit – bis er verstummte und auch die Freudentränen noch laufen ließ. Er war auf dem Weg nach Hause!
Die nächsten Tage hatten besondere Bedeutung. Mike verließ das Krankenhaus mit ein paar Schmerztabletten; aber er sah, dass er sie nicht brauchte. Sein Unterkiefer schien unglaublich schnell zu heilen und er konnte vorsichtige Übungen damit machen. Es fiel ihm immer leichter zu sprechen. Und obgleich das Essen zuerst mühsam für ihn war, ging es nach ein, zwei Tagen bereits gut. Die Schmerzen beschäftigten ihn bei der ganzen Sache überhaupt nicht. Alles war noch etwas steif, aber im Hinblick auf die Umstände durchaus erträglich. Mike wollte nicht, dass sein Hochgefühl über die nun beginnende, spirituelle Suche durch Schmerztabletten beeinträchtigt wurde. Die Schnittwunden und blauen Flecken verschwanden allmählich, und immer wieder musste er staunen, wie schnell alles ging.
Seine Kündigung erledigte er telefonisch. Unzählige Male hatte er sie in Gedanken geübt; er wollte seinen Abschied von diesem fürchterlichen Job voll auskosten. Dann rief er seinen Freund John an und erklärte ihm, so gut es ging, dass er einen ausgedehnteren Urlaub machen würde und vielleicht nicht mehr zurückkäme. John wünschte ihm alles Gute, äußerte sich allerdings besorgt über Mikes Geheimniskrämerei in Bezug auf seine Pläne.
»Kumpel«, hatte John ihn gedrängt, »mir kannst du es doch erzählen! Ich werde dich nicht daran hindern. Was ist los?« Mike wusste nur zu gut, dass John nicht verstehen würde, wenn er sagte, ein Engel sei ihm erschienen und habe ihm Anweisungen gegeben – also schwieg er.
»Ich muss eine private Reise unternehmen«, erklärte er John. »Sie ist wichtig für mich.« Und dabei ließ er es bewenden.
Mike kündigte sein Apartment und packte seine Sachen. Sorgfältig sortierte er seine persönlichen Schätze von Kleidung und Hausrat. Viel besaß er nicht, doch seine Lieblingssachen – Fotos und ein paar Bücher – steckte er in zwei Reisetaschen. Ihm war klar, dass er nicht viel Kleidung mitnehmen konnte und so nahm er nur genug für eine einfache Reise und tat sie zu den Fotos und Büchern.
Dann lud er seinen Nachbarn ein, der ihn gerettet hatte und gab ihm einige Kleidungsstücke, seinen Fernseher, sein Fahrrad – mit dem er immer zur Arbeit gefahren war – und ein paar weniger wertvolle Dinge, die sich im Laufe des letzten Jahres angesammelt hatten.
»Wenn Sie die Sachen nicht wollen«, meinte er, »geben Sie sie einer Hilfsorganisation.«
Der Nachbar schien überwältigt von so viel Großzügigkeit und strahlte übers ganze Gesicht, als er Mike die Hand schüttelte. Mike hatte den Eindruck, dass der Mann tatsächlich vieles von den Sachen gebrauchen konnte. »Katze«, der Fisch, war von seinem Nachbarn – nachdem dieser die Polizei gerufen hatte – gerettet worden; und da er sich jetzt sowieso im Aquarium des Mannes befand, schien es das Beste, dass er da blieb.
»Bye-bye, Katze!«, hatte Mike lächelnd gesagt, als er in der Wohnung des Mannes gewesen war. »Nicht die Hoffnung aufgeben.« Katze hatte ihn nicht einmal angeschaut. Er war mit seinen neuen Fischfreunden beschäftigt.
Fünf Tage nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, stellte Mike fest, dass er mit den Vorbereitungen fertig war. Er hatte keine rechte Vorstellung, was er jetzt tun und wo er eigentlich hingehen sollte. Es war Abend und alles war still. Er wusste, der Engel würde mitbekommen, wann er bereit war, und morgen würde etwas Neues beginnen. Mike fühlte, dass es an der Realität seiner Reise keinen Zweifel gab. Er war fest überzeugt, dass ihm gezeigt würde, was er zu tun hatte. Alles, was in der letzten Woche passiert war, rechtfertigte diese Überzeugung. Er beschloss, die Schätze, die er in den Reisetaschen auf seine spirituelle Fahrt mitnehmen würde, noch einmal anzuschauen.
Er öffnete die Taschen und prüfte jeden Gegenstand, den er glaubte mitnehmen zu müssen. Zuerst waren da die Fotos. Das Fotoalbum war im Laufe der Zeit etwas aus dem Leim gegangen, und viele der alten Fotos waren mit den altmodischen Klebe-Ecken aus den fünfziger Jahren eingeklebt. Er öffnete das Buch vorsichtig, um die schlechter klebenden Bilder nicht abzulösen; wieder überkam ihn die wohlbekannte Melancholie, als er auf das Hochzeitsfoto seiner Eltern blickte – das erste Foto im Album. Dieses und andere Fotos von ihnen hatte er nach dem Unfall gefunden und kaum die Kraft gehabt, sie anzuschauen.
Da waren die beiden – verliebt in die Kamera lächelnd – am Beginn ihres gemeinsamen Lebens. Ihre Kleidung fand Mike eher komisch und soweit er sich erinnern konnte, war es das einzige Mal, dass er seinen Vater mit einer Krawatte sah. Irgendwann hatte Mike Moms altes Hochzeitskleid auf dem Speicher gefunden. Er hatte eine Nachbarin gebeten, es einzupacken, weil es für ihn selbst zu schmerzlich war. Als das Hochzeitsfoto seiner Eltern damals aufgenommen wurde, existierte von Mike noch nicht mehr als der Glanz in ihren Augen: Voll freudiger Erwartung blickten sie der Zukunft entgegen. Mike starrte lange auf das Foto, bis er schließlich sanft zu ihm sagte: »Mom und Dad, ich bin euer einziges Kind. Ich hoffe, das, was ich jetzt vorhabe, wird euch nicht enttäuschen. Ich liebe euch und wünsche mir, euch bald wiederzusehen.«
Dann schlug er die Seiten auf, die ihn als Jungen zeigten. Er lächelte oft. Da war die alte Farm, und ab und zu Bilder von Freunden, die seinen Lebensweg geteilt hatten. Er liebte das Foto, wo er selbst auf dem Traktor saß und sechs Jahre alt war. Wieviel ihm dieses Album bedeutete! Mike hatte den Eindruck, Gott eine Freude zu machen, wenn er die Fotos mit auf seine besondere Reise nahm und in dieser Weise seine Eltern und sein früheres Leben hochhielt. Was später mit dem Album passieren würde, konnte niemand wissen. Doch im Augenblick hatte Mike das Gefühl, dass er diese Dinge nicht zurücklassen durfte.
Außerdem waren da noch seine Bücher. Er liebte sie über alles! Seine Bibel: vom vielen Lesen dünn geworden; wie oft hatte sie ihn getröstet! Auch wenn er nicht alles verstand, so fühlte er doch ihre spirituelle Energie. Sie war sorgfältig eingepackt und Mike hätte sie niemals irgendwo zurücklassen können. Dann seine Jugendbücher, die ihm so viel bedeuteten: Die Hardy Boys, Charlottes Netz – ein paar Taschenbücher, die er ab und zu wieder las; und die ihn jedesmal an die Zeit erinnerten, als er diese spannenden Geschichten zum ersten Mal gelesen hatte und an alles, was er in dem Alter gemacht hatte. Schließlich das tolle Abenteuerbuch von Moby Dick – da war er schon etwas älter – und die Sherlock-Holmes-Serie. Und dann einige seiner Lieblingsgedichte von unbekannten Schriftstellern.
All die Bücher und Fotos passten problemlos in zwei Taschen und waren leicht zu tragen, so dass er auch noch einen mittelgroßen Beutel für Proviant mitnehmen konnte. Mike war mit allem fertig und legte sich zum Schlafen ein letztes Mal auf den Boden seines nun leeren Apartments. Er hatte ein Kissen und das genügte. Er war für den kommenden Tag gerüstet und auf seine spirituelle Suche so gespannt, dass er kaum einschlafen konnte – so sehr beschäftigte ihn alles, was passiert war und die Verheißung des Kommenden. Morgen würde seine Reise nach Hause beginnen.