Название: Schatten über Adlig-Linkunen
Автор: Dieter Janz
Издательство: Автор
Жанр: Исторические детективы
isbn: 9783944224008
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„Aber Maria, wir leben im 19. Jahrhundert, die Zeiten ändern sich. Was heute noch ungewöhnlich ist, wird morgen bereits normal sein. Außerdem ist man in Berlin erheblich toleranter als hier im verstaubten Ostpreußen!“
„Du meinst unmoralischer, nicht toleranter. Ich schlage dir vor, erst einmal mit deinen Eltern zu reden. Sag mal, wie bist du eigentlich auf all diese Ideen gekommen? Woher weißt du, dass man in Berlin als Frau studieren darf, wenn man eine Genehmigung erteilt bekommt? Hat Hannes für dich in Berlin nachgefragt? Du warst doch noch nie alleine dort!“
Anna wollte gerade antworten, als Maria ihr ins Wort fiel: „Ah! Sag nichts, ich glaube, ich kann es mir selbst zusammenreimen: Hat es etwas mit Otto Goldfeld zu tun und der Tatsache, dass unser Hausarzt, Dr. Markowski, in letzter Zeit öfter bei ihm ist?“
In der Tat ging es dem Gutsverwalter immer schlechter und der Arzt sah regelmäßig nach ihm. Goldfeld konnte seine zunehmende Atemnot nicht mehr verbergen, wie er es noch vor kurzer Zeit getan hatte. Maria war aufgefallen, dass Anna bei den Arztbesuchen immer zugegen war und sich auch sonst oft bei Goldfeld aufhielt; hatte dies aber ausschließlich auf das enge Verhältnis der beiden zueinander zurückgeführt. Aber jetzt erschien das Ganze in noch einem anderen Licht. Und in der Tat bestätigte Anna: „Ja, es hat auch sehr viel damit zu tun. Ich habe mich ausführlich mit Dr. Markowski unterhalten. Zunächst nur, um in Erfahrung zu bringen, wie ich Opa Goldfeld helfen kann. Dabei wurde aber auch generell mein Interesse für die Medizin geweckt. Ich merkte, wie wenig ich ohne medizinische Kenntnisse für ihn tun kann. Dr. Markowski ist eine Goldgrube und sehr, sehr erfreut, wenn man ihn ausfragt. Ich glaube, er denkt, dass er in mir eine gelehrige Schülerin gefunden hat, und ich hoffe, er hat Recht. Schon bald habe ich ihm anvertraut, wie sehr mich ein Studium interessieren würde. Er hat zunächst genauso reagiert wie du, und ich versuchte, alle seine Einwände zu entkräften. Auf der anderen Seite imponierten ihm wohl meine Hartnäckigkeit und meine Verärgerung darüber, dass Frauen nicht studieren dürfen. Eines Tages überraschte er mich mit der Nachricht, dass ich mit Sondergenehmigung die Universität besuchen kann. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und erklärte mir, dass er den Dekan der medizinischen Fakultät in Berlin recht gut kenne und sich für mich einsetzen könne. Er riet mir allerdings, ebenso wie du, zuerst mit meinen Eltern ausführlich zu sprechen.“
„Und die werden alles andere als erfreut sein. Ich glaube, so wie die Dinge stehen, wird dies schon die erste unüberwindbare Hürde sein. Aber ich bewundere dich, Anna, und überlege, wie ich dir helfen kann. Hast du überhaupt schon mit jemandem, außer Dr. Markowski und mir, darüber gesprochen?“
„Um Gottes willen, nein. Ich muss mir alles genau überlegen, einen genauen Plan machen. Und ich möchte nicht, dass meine Eltern das Vorhaben von jemand anderem erfahren als von mir, also behalte unser Gespräch für dich!“
„Natürlich, Anna, das versteht sich doch von selbst!“
Inzwischen waren sie an dem See angekommen und mussten feststellen, dass die Eisfläche noch viel zu dünn war, um sie betreten zu können. Es würde noch ein paar Tage benötigen, bis der See so weit zugefroren war, dass man darauf laufen könnte. Also machten sie sich wieder auf den Heimweg. Sie wechselten die Gangart ihrer Pferde zwischen Galopp und Trab, weshalb ein intensives Gespräch nicht möglich war und sie relativ schnell zu Hause ankamen. Als sie am Verwalterhaus vorbeikamen, sahen sie die Kutsche von Dr. Markowski davor stehen. Es musste sich um einen Besuch handeln, der nicht eingeplant war und das beunruhigte die beiden Mädchen.
Sie stiegen von ihren Pferden ab und wollten gerade das Verwalterhaus betreten, als der Arzt seinerseits aus dem Haus trat. Markowski war ein kleiner humorvoller Mann. Sein lockiges Haar war weiß geworden, denn er war auch nicht mehr der Jüngste. Eine ordentliche Frisur zierte selten sein Haupt, meist stand die Lockenpracht zu Berge oder war zerzaust. Über der Oberlippe wuchs ein kräftiger, weißer Schnurrbart, der oft so lang war, dass er ihm über den Mund reichte. Viktor Markowski war mit Wilhelm-Antonius befreundet und aß des Öfteren bei Familie Kokies zu Abend. Seine Frau war schon vor Jahren verstorben und Kinder hatten die beiden keine. Maria konnte bei den gemeinsamen Abendessen beobachten, wie geschickt der Mann seine Suppe trotz des riesigen Schnurrbartes in seinen Mund balancierte, dennoch blieb es nicht aus, dass sich hin und wieder ein Stückchen Gemüse oder Kartoffel in den Barthaaren verfing. Markowski hatte es sich wohl deshalb zur Angewohnheit gemacht, zwischendurch mit dem rechten Handrücken über den Mund zu fahren. Sein Gesichtsausdruck war stets freundlich, seine Augen strahlten ein Lächeln aus und seine Anekdoten, die er zum Besten gab, waren eine beliebte Abendunterhaltung.
Aber jetzt wirkte er alles andere als heiter und er sah die beiden Mädchen sorgenvoll an.
„Wie geht es Herrn Goldfeld?“, fragte Maria und hatte vor der Antwort Angst.
„Nicht gut, ich bin auf dem Weg zu deinem Vater, um ihm von dem ernsten Gesundheitszustand seines Verwalters zu berichten. Ich fürchte, wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen.“
Anna drängte sich an Markowski vorbei und rannte ins Haus zu Goldfelds Zimmer. Als sie die Tür öffnete, fand sie den alten Mann schlafend in seinem Bett. Sein Atem war flach aber regelmäßig. Anna zog einen Stuhl heran, setzte sich neben ihn und ergriff vorsichtig seine Hand. So verharrte sie eine ganze Weile, bis Goldfeld die Augen aufschlug. Als er Anna erblickte, lächelte er und versuchte, etwas zu sagen, aber es fiel ihm sichtlich schwer. „Psst, du brauchst nicht zu reden. Ich bleibe einfach ein wenig bei dir und halte deine Hand. Hast du Schmerzen?“
Goldfeld schüttelte leicht mit dem Kopf und drückte Annas Hand. Jetzt bemerkte sie, dass ihm Schweißperlen auf der Stirn standen. Auf einer Anrichte neben dem Bett befand sich ein Wasch-Lavor und daneben lagen saubere Handtücher. Anna ergriff eines davon und tupfte Otto vorsichtig die Stirn damit ab. Er hatte die Augen wieder geschlossen, aber sie merkte, dass er nicht schlief.
„Weißt du noch, wie du ebenso wie ich jetzt an meinem Bett gesessen hast, als ich noch ein Kind war? Du hast mir schöne Gutenacht-Geschichten erzählt, weil ich nicht einschlafen konnte.“
Otto nickte und lächelte, hielt aber die Augen weiterhin geschlossen.
„Ich glaube“, fuhr Anna fort, „die Geschichten hast du dir alle selbst ausgedacht. Aber es waren immer wieder neue, keine hast du zweimal erzählt. Einen großen Teil der Erzählungen habe ich vergessen, aber es gibt noch sehr viele, an die ich mich erinnere. Eines Tages, hoffe ich, werde ich sie meinen Kindern, so Gott will, erzählen und ihnen sagen: Die sind von Opa Goldfeld, und wenn ihr mal Kinder habt, erzählt ihr sie denen auch. Du siehst, dass du unsterblich geworden bist.“
Ottos Gesichtsausdruck war völlig entspannt, ja, eine gewisse Heiterkeit ließ sich daraus ablesen. Er hielt Annas Hand fest in der seinen. Sie sprach weiter von früheren Zeiten und welch große Bedeutung er für ihre Kindheit gehabt hatte. Schließlich schlief Goldfeld wieder ein. Ein vorsichtiges Klopfen war von der Tür her zu hören und Anna rief leise: „Herein!“, woraufhin die ganze Familie Kokies in das Zimmer trat. Anna stand auf und deutete mit dem Finger an der Lippe daraufhin, leise zu sein, um Otto nicht in seinem Schlaf zu stören. Eine Weile standen sie schweigend beieinander. Dr. Markowski hatte die Familie ausführlich informiert, und sie wussten, dass dies möglicherweise der Abschied von Goldfeld war. Dieser war inzwischen wieder aufgewacht, aber jetzt erkannte er die Anwesenden nicht mehr. Erneut ergriff Anna seine Hand und flüsterte den anderen zu: „Ich bleibe bei ihm. Sobald sich eine neue Situation ergibt, werde ich berichten.“
Sie verstanden den Sinn von Annas Worten und verließen das Zimmer. Ottos Blick war auf sie gerichtet und er formte seine Lippen zu einem „Danke“, СКАЧАТЬ