Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
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13. Juli 1990
Gestern Abend erklärte Jelzin im Großen Saal des Kreml seinen Parteiaustritt, sehr wirksam, vor laufenden Fernsehkameras, man hätte eine Nadel fallen hören. Dann verließ er den Saal. Empörte Rufe: »Schande, Schande«, plötzlich sehr müde wirkende Gesichter. Die Demokratische Plattform hat sich nun abgespalten und konstituiert sich als eigne Partei. Jelzin erklärte, als russischer Präsident müsse er überparteilich sein, Präsident aller Russen, der sich nicht an die Linie der KPdSU binden könne. Er hat damit weiteren Wind aus Gorbatschows Segeln genommen.
Gestreikt wurde auch in Workuta, wo Arbeiter ihre Parteibücher in einen großen Papiersack warfen.
FAZ-Reißmüller: »Nur wenn die Partei nicht mehr der Staat ist, kann der Leninismus absterben, das Grundübel in der Sowjetunion.«
*
Die FAZ setzt ihre auf Säuberung der DDR-Universitäten gerichtete Serie fort: Ralf Georg Reuth (»Weiter auf antikapitalistischem Weg. Die PDS-Gesellschaftswissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität geben nicht auf«) stellt vor allem Heinrich Fink an den Pranger. Er steht im Wege als widerständiges, weil unbelastetes Element. Dieter Segert wird an zweiter Stelle angegriffen, an dritter Michael Brie, der aber mit seinem Bruder André verwechselt und zum Wahlkampfleiter der PDS erklärt wird. Brie habe Kontakte zu Markus Wolf, wird mitgeteilt, als ob das Stasi bedeute. Dieter Klein kriegt vorgehalten, auf dem SEDParteitag vom Dezember 1989 eine wirkliche Herrschaft des Volkes, nicht eine bloße Westkopie angestrebt zu haben.
14. Juli 1990
Außer Gorbatschow und Iwaschko lauter Neue im Politbüro gewählt. Schewardnadse nicht. In der FAZ interpretiert Werner Adam es als eine Art Halbherzigkeit, fast Feigheit, dass Gorbatschow »sich nicht dazu durchringen mochte«, die sozialistische Wahl zu widerrufen und zum Kapitalismus überzugehen.
15. Juli 1990
Laut Fernsehen 400 000 auf dem Platz der Manege. Keine Rede, in der die KPdSU nicht »verbrecherisch« genannt wurde. Ihre Führer sollen vor Gericht gestellt, ihr Eigentum beschlagnahmt werden. Gorbatschow habe sich zu den »Konservativen« geschlagen. Durch seinen Austritt scheint Jelzin diese Deutung festgelegt zu haben.
Später ein Bericht über sowjetische Faschisten, schwarz uniformiert, vom Popen gesegnet, mit Judenhass und Zarenemblemen. Sie sehen tatsächlich den unsrigen ähnlich und wünschen auch, mit diesen in Kontakt zu treten. Juden verlassen zu Zehntausenden das Land, in Israel eine Wohnungskrise.
16. Juli 1990
In seinem Schlusswort sagte Gorbatschow, dies sei nicht der letzte Parteitag der KPdSU und nicht ihr Begräbnis, wie vorhergesagt worden war. »Die Kommunistische Partei lebt und wird leben. Sie wird ihren historischen Beitrag zum Fortschritt des Landes und zum Fortschritt der Weltzivilisation leisten.« Ein Rückfall in die »alten Gewohnheiten« würde den »Tod der Partei« bedeuten. Er werde »alle verfassungsmäßige Macht als sowjetischer Präsident« gebrauchen, um die Politik der Umgestaltung durchzusetzen und zu verhindern, dass irgendjemand »die Perestrojka zerbricht«.
Die Resolution »Für einen humanen, demokratischen Sozialismus« erklärt sich für die Überwindung der »historischen Spaltung der Arbeiterbewegung«, für Zusammenarbeit von »Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, national-demokratischen Parteien sowie allen Organisationen und Bewegungen, die für Frieden, Demokratie und sozialen Fortschritt kämpfen«. Die innere Situation der SU sei bestimmt durch die Polarisierung zwischen einer »konservativ-dogmatischen Strömung«, die zurück zum autoritären Sozialismus der Vergangenheit will, und einem radikalen Antisozialismus, ja Faschismus und Monarchismus; in den nationalen Bewegungen immer mehr Chauvinismus.
Gorbatschow hat den Rückzug der KPdSU aus der Kontrolle der Massenmedien dekretiert. BBC brachte das in Zusammenhang mit der gestrigen Demonstration. Engelbrecht, den ich mit einigem Glück am Telefon erwische, sagt, der »konservative« Angriff sei dauerhaft abgewehrt. Daher sei die Demonstration auf dem Manegeplatz »die richtige Veranstaltung zum falschen Zeitpunkt« gewesen; nach dem russischen Parteitag wäre sie angemessen gewesen, jetzt nicht mehr. – Ich sage, im Fernsehen sei von 400 000 Demonstranten die Rede gewesen. E. erwidert, ich solle getrost die Hälfte streichen. Er war dort. Der Platz nur locker besetzt. Die Schaulustigen überwogen. Ein harter Kern von einigen Zigtausend umschloss die Rednertribüne. Weiter hinten zündeten die radikalen Sprüche nicht. Nicht die geballte Kampfstimmung wie im Februar oder April. Awaliani verglich er mit der SA. Dieser rechtsdemagogische Populismus sei gefährlich.
Wir hätten uns vom sinnlichen Eindruck zunächst irreführen lassen, als wir die Grundstimmung für machtkonservativ hielten. Was wir für »rechts« (er spricht diese Sprache allzu bedenkenlos) hielten, sei Ignoranz, Ungeübtheit, Verständnislosigkeit, Nicht-Mitkommen mit dem Neuen gewesen. Frei nach: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Für das Folgenreichste hält E. rückblickend Gorbatschows Treffen mit den Sekretären der Grundorganisationen. Sie habe er gewonnen. Daraus sei ein zweiseitiger Energietransfer gefolgt. Kraft für ihn, Orientierung für die Verunsicherten.
Auf Gorbatschows Wunschliste (85 Namen) standen Gelman, Roy Medwedjew, Falin u.a. Sie hatten zwar mehr als die Hälfte der Stimmen erhalten, aber auch viele Gegenstimmen. Es bedurfte des massiven Auftretens von Gorbatschow u.a., die Beschwörung, nicht alles Erreichte des Kongresses in letzter Minute wieder zunichte zu machen, um die Delegierten dazu zu bewegen, das ZK entsprechend zu erweitern. – Der Opportunist Iwan Frolow hat es ins Politbüro geschafft. Ist aber nicht für »Ideologie« zuständig; dieses Ressort wurde Aleksandr Dsachossow (1934) übertragen, der den Ausschuss für Internationales im Obersten Sowjet leitet. Eine einzige Frau im Politbüro, anscheinend das übliche schamlose Feigenblatt: Galina Semenowa, Chefredakteurin der Zeitschrift »Krestjanka« (Die Bäuerin) seit 1981, nunmehr zuständig für Frauenfragen.
Mit Katja Maurer von der »Volkszeitung« meinen Abschlussartikel zum Parteitag vorbesprochen. Nach den Machtkonservativen wären nun die Gorbatschow-Leute zu behandeln. Allerlei Fragen von der Art, ob dies oder das »noch eine Zukunft« habe: die KPdSU, die Sowjetunion, der Sozialismus … Die nur 16 Prozent für Ligatschow eine große Überraschung. Wie zu erklären? Konzeptionslosigkeit der Machtkonservativen? Der Kultusminister, ehemals Chef des Tanganka-Theaters, zu den Delegierten: wir werden uns von der Jugend des Landes isolieren und die Beziehungen zu den Intellektuellen zerstören, wenn wir die Roy Medwedjew, Lazis, Gelman, Schatalin, Falin u.a. nicht wählen.
Die SU tut den großen Schritt von einem Wirtschaftsmodell zum anderen, das in der Logik der Dinge eigentlich nur mehr das des Westens sein kann. Zur sich neuen Konfiguration von Politik gehören der Nato-Generalsekretär, der die Feindrolle der SU für beendet erklärt, und Helmut Kohl, der eine Obergrenze der deutschen Armee und Geld und die Perspektive besonderer deutsch-sowjetischer Beziehungen anbietet.
Was verstehen die Leute um G unter »sozialistischem« Charakter der Politik? Die Rettung vor einem wilden Kapitalismus in einem drittrangigen Land.
Fragen. – Droht ein sowjetischer Bonapartismus, ein Präsidialregime mit Exekutiv-Verselbständigung auf Basis eines Klassengleichgewichts? Spricht dafür nicht die demokratisch dubiose Durchsetzung von Gorbatschows Kandidaten? Das Wiederholenlassen von Mehrheitsentscheidungen? So war freilich auch gehandelt worden, nachdem Ligatschow durch Mehrheitsentscheid von der Kandidatenliste gestrichen worden war. Oder entsprang es blindem Gehorsam, dass der kurz zuvor noch Gefeierte nicht gewählt worden ist? Nachträglich herrscht anscheinend der Eindruck, Gorbatschow habe den Kongress »total beherrscht«. NZZ erklärt Gorbatschows Erfolg mit alten Disziplin-Mechanismen und Angst СКАЧАТЬ