Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
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Überraschend durchs Bundesverfassungsgericht das Wahlgesetz verworfen, das eigens zugunsten der rechtskonservativen DSU und zur Vernichtung der PDS gemacht worden war. PDS und Bürgerinitiativen kriegen plötzlich doch noch eine Chance.
»Kindergipfel« der UNICEF: als bildeten Kinder als solche eine Interessengruppe, also hungerten Kinder und nicht junge genau wie ältere Arme. Kinder als Kategorie quer zu den Klassen.
30. September 1990
Traum von meinem Vater. Er stand an meinem Bett, und schien sich zu entschuldigen, dass es ihm nie leicht gefallen sei, Liebe zu zeigen. Ich sagte: Ich hätte mir nicht vorgestellt, dass es ohne dich so schwer sein würde. Er umarmte mich, hob mich dabei hoch. Ich war wohl wieder ein Kind. Die Tränen schossen mir in die Augen. Aber es war klar, mir würde Kraft zuwachsen. – Zu denken, was für ein verhutzelter Männerembryo er war, als ich ihn zuletzt lebend sah.
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Aus Mexiko Bolívar Echeverría zu Besuch. Er sprach über die arabische Gegenmodernisierung als Reaktion auf schlechte Modernisierung. Sieht den deutschen Kapitalismus in der Pflicht, den Osten bis Sibirien zu modernisieren und sich zu subsumieren.
Weil Subsistenz nicht viel mehr als nichts kostete, sei die Arbeitskraft in der DDR keine Ware gewesen. Die sozialistischen Länder hatten die Grundversorgung als Ziel. Dagegen sieht Bolívar heute im Sozialismus die Perspektive der Befreiung des Marktes. Folglich habe Lenin unrecht, wenn er in der Ware schon das Kapital angelegt sieht. Man müsse den Einschnitt zwischen dem ersten und dem zweiten Abschnitt bei Marx ungeheuer stark lesen. Eingreifen heiße zerstören; das Kapital greife ein. Kurz, Bolívar versucht, die Rehabilitierung des Marktes zu Marx zurückzuverlegen.
Fidel Castro sei im Kriegskommunismus befangen; ein Kapitän, der mit dem Schiff unterzugehen sich anschicke. Im Gegensatz dazu hält Bolívar die Regierungsabgabe der Sandinisten für »ganz logisch«. Ungeheuer wichtig, dass sie die Armee behalten haben. Die ökonomische Krise völlig ungelöst. Die Sandinisten suchen zusammen mit der bürgerlichen Regierung nach einer Lösung.
Bolívar erzählte vom »theoretischen Stierkampf« (corrida de toros) um Octavio Paz (Agnes Heller, Cornelius Castoriadis, Peter Sloterdijk und 15 andere): Das Ende des Kommunismus, Zeit des Liberalismus. Erhielten für ihre Inszenierung beste Sendezeiten. Die Linke eingeschüchtert. Carlos Monsiváis war der eingeladene Lizenz-Linke. Als er auf Paz, der alles erdenklich Schlechte von den Linken behauptet hatte, erwidern wollte, schnitt man ihm das Wort ab. Tags darauf replizierte er in La Jornada. In der Folge meldeten sich immer mehr Intellektuelle zu Wort, dazu der Politologenkongress. Pablo Gonzalez Casanova, der auf diesem Kongress eine Rede über die Lage der Sozialwissenschaften Lateinamerikas gehalten hat, soll zu Armando Hart gesagt haben: »In Kuba braucht ihr eine zweite Revolution.«
Die von Bolívar mitherausgegebene Zeitschrift Cuadernos Políticos unterbricht fürs erste ihr Erscheinen. »Wir brauchen zunächst einige Zeit zum Nachdenken.«
Bolívar arbeitet über Barock in Lateinamerika. Leitet die spezifische Diskursweise von diesem Phänomen her. Barock als Modernitätsform. Z.B. existiere die Bedeutung »nein« nicht. Um zu negieren, benützten sie »ja, ja«. Das Wesentliche wird im Nebensächlichen bedeutet.
Als erste Kulturpolitik der Geschichte sieht er die der Jesuiten des 17. Jahrhunderts: Dammbau gegen die Reformation.
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Zum »Veralteten« der DDR gehörte die Orientierung auf Schriftkultur. Das Buch. Die Zeitschrift.
Wieso der Platinpreis fällt: Man rechnet mit Rezession (Krise), daher mit weniger Investition in Umweltschutz, für den Platin gebraucht wird.
1. Oktober 1990
Die USA drängen sich der westlichen Welt als Söldner auf, sagte Bolívar. Sie wollen den Krieg und haben nun wenigstens den Kriegszustand.
Panik an der Börse von Tokio. Die Kurse halbiert im Vergleich zum Jahresbeginn.
Zum ersten Mal Schüsse bei einer PDS-Veranstaltung.
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BVG-Urteil zum Wahlgesetz. – Parteien der DDR müssten dort 23,75 Prozent der Stimmen erhalten, um insgesamt über die 5-Prozent-Hürde zu gelangen. Bundesdeutsche Parteien, die einzig im Bundesgebiet kandidieren würden, bräuchten stattdessen nur 6 statt wie bisher 5 Prozent. Das wäre als Ungleichbehandlung anfechtbar. Die FAZ (Fromme) sauer auf das Verfassungsgericht.
Vorbesprechung der Volks-Universität 1991. – Ina Merkel gegen das Deutschland-Thema. Die DDR-Bürger wollten endlich etwas über die weite Welt wissen. Weder Nabelschau noch deutsche Selbstablehnung. Ina kicherte fortwährend, aber es lauerten Tränen.
Bis zur körperlichen Attacke soll André Brie, gegen den »Revisionismus« seines Vaters wütend, gegangen sein. Ehedem Kampfgruppenführer. Michael erwähnte es, als ich von den bitter herabgezogenen Mundwinkeln seines Bruders sprach.
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Unendlich schwierig und sehr notwendig, gerade jetzt als Linker die Widersprüchlichkeit der Situation zu denken. Von Eckart Spoo einen Rundbrief, worin er einseitig richtige Äußerungen von Steinkühler zitiert, die er entgegengesetzt einseitig richtig kritisiert. – Steinkühler schreibt in Metall, die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober biete der Menschheit »eine neue, vielleicht sogar eine allerletzte Chance«. – Spoo: »Gesamtdeutschland als letzte Chance der Menschheit? Geht es nicht eine Nummer kleiner?« – Steinkühler näher an der Wahrheit. Jetzt ist Weltinnenpolitik möglich geworden, ohne dass im mindesten sicher wäre, dass wir nicht nur westlichen Imperialismus-der-Sieger bekommen. Aber die deutsche Vereinigung ist ja nur Ausdruck einer globalen Änderung, die der Menschheit tatsächlich eine letzte Bewährungsprobe einräumt.
2. Oktober 1990
Tengelmann inseriert in der FAZ ganzseitig: »Wir freuen uns auf Deutschland«. Dto. die Dresdner Bank: »Mit dem 3. Oktober beginnt für uns und für alle Deutschen der Aufbruch in eine neue Zeit.«
Gestern Abend mit Michael Brie im »Haus des Welthandels« an der Friedrichstraße: im Erdgeschoß bereits Kaisers Kaffeegeschäft von Tengelmann eingezogen.
Verliererseite: Die PDS hat aus Furcht vor Terroranschlägen ihre für heute Abend geplante Großkundgebung abgesagt. – Siegerseite: Die FAZ hat zur Feier des Einheitstages den Umbruch verändert: Leitartikel quer über eine halbe Seite. Mehr denn je Regierungsblatt. Kohl füllt eine Seite mit Sätzen wie: Nun ist »der geistige Klammergriff der kommunistischen Ideologie beseitigt«. De Maizière fungiert nur in einem Inserat der Bundesbahn.
Ina Merkel gestern voller Unbehagen über das Unbehagen an Deutschland. Aber sie empfindet es selbst. Auch ich werde der Sache nicht froh. Die Machtverdichtung hier wird uns als Subjekte hinterrücks mitverwandeln, weil sie die Art, in der wir als Deutsche in die Welt eingeschrieben sind, verändern wird. Für die anderen sind wir nun einmal Repräsentanten bzw. Partizipanten Deutschlands.
Pit Jehle bemerkte die systemische Intelligenz einer Staatsordnung, in der es mehrere Instanzen gibt, deren keine gänzlich kompetent ist. Selbst die Generalkompetenz der Zweidrittelmehrheit des Parlaments vielfach gebrochen. Jetzt das BVG-Urteil. U.a. hatte die »verabscheute« PDS zum ersten Mal das Verfassungsgericht СКАЧАТЬ