Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783867548625

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СКАЧАТЬ einander freilich auch blockieren.

      *

      Die enorme Erleichterung wird überlagert vom Eroberergestus der bundesdeutschen Herrschenden und Machthabenden. Mehrere Siege, die einander durchkreuzen. Obenauf die Kreuzzügler des »Privateigentums«, nein: des Kapitalismus.

      Jens Jessen (FAZ, 29.9.): »Wiedervereinigung« = »Entmachtung einer ganzen Priesterkaste«. »Noch ehe den deutschen Intellektuellen mangelnde Unterstützung des Wiedervereinigungsprozesses vorgeworfen werden konnte, verstanden sie, dass der Vereinigungsprozess gegen sie gerichtet war.« F. K. Fromme ebenda über »das stille Zusammensinken der DDR«.

      *

      Michael Brie hielt seine erste Vorlesung zu Luhmanns Artikel übers Ende der DDR. »Was lernen die Landtiere aus dem Verenden der Fische? Nichts!«

      2. Oktober 1990 (2)

      Im Gorki-Theater bei der Abschiedsvorstellung der DDR. Klaus Pierwoß, der als Dramaturg an dieses Theater gegangen ist, hat mich eingeladen. Die Schauspieler und Schriftsteller sitzen im Licht, eine stille Feierlichkeit des Saales auf sie gerichtet wie auf ein stellvertretendes Wir. Volker Braun liest die »Kolonie«, eine Kafka-Paraphrase vom Frühjahr 1989, die noch immer prophetisch wirkt, obwohl sie schon mehrfach veröffentlicht ist, darunter auch im Argument. Ich registriere diesen Unterschied unserer Textproduktionen, dass diese Wirkung mir verwehrt ist. Ich muss meine schwitzende Unvollkommenheit beim möglichst klaren Sagen immer wieder neu anstrengen.

      Volker, klassisch: »Ich bleibe hier, mein Land geht in den Westen …«. Ein anderer liest von Thomas Brasch: »Bleiben will ich, wo ich niemals war …« Biermann: »Das bisherige Stück ist aus. Nun habe ich endlich nicht mehr Recht.« Heißt: Recht gegen seinesgleichen. Und Heiner Müller: »Dies ist eine Zeit, in der man die Lehren vergraben muss, so tief, dass die Hunde nicht rankommen.«

      Nicht mehr Recht haben gegen Mächtige, die sich auf dieselbe Tradition wie wir berufen. Jetzt predigen wir, ganz normal, den Fischen. Jetzt haben wir »Recht« gegen Mechanismen.

      Nach der Pause muss ich aufs Diskussionspodium. Wenn vorher Feierlichkeit die literarische Nostalgie entgegennahm, so lässt der Saal nun den Hund raus nach einem Zwischenruf, warum keine Frauen auf dem Podium. Lasse mich von Pierwoß, der das zu verantworten hat, in den sicheren Untergang schicken. Analyseversuche gehen im Lärm unter. Ich habe kein Glück bei meinen öffentlichen Auftritten in der DDR. Das Gefühl, hier nichts zu suchen zu haben. Ursula Werner, die man schließlich zur Ausfüllung der Frauenrolle aufs Podium geholt hat: »Wenn uns jetzt die Gesellschaft der Warenproduktion überrollt …«, und Langhoff sieht die Zahnärzte und Gynäkologen mit ihren brillantenbehängten Damen das Theater besetzen. Als Lyrik die Nostalgie peinlich, als politische Meinung unerträglich. Neben mir Frank Castorf, der an der Volksbühne Aufsehen erregt hat mit seiner Inszenierung der Räuber. Für ihn ist die Bombe (werfen) das politische Ding an sich, von dem abgebracht zu werden die Kunst freisetzt.

      Ich versuche, etwas über den Funktionswandel des Theaters nach der Freisetzung der Öffentlichkeit zu sagen. Vor allem versuche ich, die Zweideutigkeit der Situation in Worte zu fassen, die Überlagerung von Erleichterung und Bedrückung. Einerseits eine Befreiung; dem Zensurstaat nicht nachzuweinen. Andrerseits kommt die Emanzipation als Unterordnung. Aber nicht zu leugnen, dass der Bundesrepublik auch eine eigne Dignität zugewachsen ist. Unglück, wenn die Intellektuellen drinnen jammern, während das Volk draußen feiert. Wir sind getrennt von der Freude des Volkes. Das ist ein Unglück. Auf dem Podium nimmt keiner den Faden auf. Nur aus dem Publikum erhalte ich Schützenhilfe von Claus-Henning Bachmann, der über die Volksuni als Versuch, Intellektuelle und Volk zusammenzubringen, spricht und an seine Prägung vom »wissenschaftlichen Volksfest« erinnert.

      3. Oktober 1990

      Als es auf Mitternacht zuging, schoben Anneli, Arne (die Tochter) und Volker Braun und ich uns mit der, durch die, gegen die Menge dem Brandenburger Tor entgegen, das wir aber nicht erreichten. Die Straße Unter den Linden war mit einer Million zertretener Plastikbecher und unzähligen leeren Flaschen und Dosen bedeckt.

      In unvorstellbarem Gedränge erreichte ich den Bahnsteig, quetschte mich in einen total überfüllten Zug, der an ebenso überfüllten Bahnsteigen vorbei zum Zoo fuhr.

      *

      Mathias Schreiber zieht (in der FAZ vom 29.9.) über Lafontaine her, weil dieser »übereilt die gerade mühsam erworbene Einheit-in-Freiheit an das ›Europäische‹ abtreten möchte«. Führt einen ungenannten SPDler vor, weil dieser der DDR empfohlen haben soll, es doch eher mit Österreich zu probieren. Lafontaines Bemerkung, auch Gesamtdeutschland sei ein Provisorium, weil ja Europa konstituiert werden müsse, kontert er im Carl-Schmitt-Ton: »Die Taktlosigkeit solcher Witzeleien entspricht der Unangemessenheit provisorischen Verhaltens in entscheidenden Situationen.« Das erste Mal, dass ich in der FAZ Kursivdruck gesehen habe. Selbst typographisch herrscht der Ausnahmezustand.

      Morgan Stanley rechnet damit, dass in Deutschland die Zinsen auf über 10 Prozent steigen, woanders noch höher, weil aus der BRD wegen der Ostinvestitionen enorm viel weniger Kapital exportiert werden wird. »Schwere Schläge« werde das »außerdeutsche Europa« erleiden durch steigende Ölpreise und höhere Kapitalkosten. Was aber, wenn Weltwirtschaftskrise? Wie schlüge diese nach Deutschland herein? Hier denken sie nicht weiter.

      Die Schieder-Gruppe, mit 1,17 Mrd DM Umsatz stärkstes Möbelkapital Europas, baut in Polen aus. Bislang 95 Prozent der dortigen Produktion in den Westen exportiert. Terms of trade: Holz kostet 50 Prozent im Vergleich zu hier, Arbeit weniger als 10 Prozent (220 DM pro Monat, Überstunden am Wochenende mit Handkuss, Krankenquote die Hälfte im Vergleich zur BRD). In Polen nun zwei neue Polstermöbelwerke fürs »untere Preissegment«, in Ostberlin eines fürs mittlere. Ein Ausdehnungshemmnis: die Bundesrepublik lässt polnische Auszubildende nicht ins Land.

      4. Oktober 1990

      Erhaschte Bruchstücke zweier Sendungen, von einer jener unzähligen »Talkshows« (welch ein Sprachbastard!) und einer Sendung aus Weimar, wo Jugendliche aus Erlangen und solche aus der DDR ihre Meinung sagen durften. Erstere gemütlich-langweilig. Die DDR-Jungen eine Überraschung: genau blickend, unberauscht.

      »In den Schoß gefallen« ist den (uns) Deutschen diese Einheit. »Geschichte« passiv, tangential zur aktiven Geschichte: am Rande der Perestrojka.

      Was versagt hatte: die Zentralverwaltung durch eine Staatspartei, die entsprechende Produktionsverhältnisse mit einem strukturhomologen politischen und ideologischen Überbau versah. Wenn eine Partei diktiert, dehnt sich der Staat überall dorthin aus, wo sie zugange ist, und holt auch die Diktierende in sich hinein. Die Parteiverhältnisse werden staatsförmig. Es ist ein absolutistischer Staat, der rekrutiert und kooptiert, gesichert durch universelle Kontrolle (informationelle Durchdringung, Disposition über Chancen und Sanktionen, Repression). Nicht feudal, aber absolutistisch: der moderne Fürst. Aufgeklärt, informiert durch Marx, Engels und Lenin: So hat mir das schon vor einem Menschenalter der Architekt Weise erklärt, einer der Erbauer der Stalinallee. Deren Symmetrie demonstriert eine absolute Generalvernunft. In ästhetischer Form drückt sie die reale Subsumtion der Gesellschaft unter den Staat aus.

      Das Ersticken von Initiative antisozialistisch. Der Staat hochwidersprüchlich: unmittelbare Bedingung von Sozialismus und antisozialistische Tatsache in einem. Letztere hat den Sozialismus bestimmt.

      Man müsste im öffentlichen Diskurs das interessierte Amalgam aus Kapital und dezentraler Handlungsstruktur auseinanderlegen. Zumal die Imperien des transnationalen СКАЧАТЬ