Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
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Ist die Bewegung in den Städten, obwohl sie sich gegen Gorbatschow richtet, progressiv? Gibt es Ansätze einer nach Selbstverwaltung strebenden demokratischen Bewegung? Was bliebe andrerseits als Machtbasis der Partei? Provinz? Armee? Es sind doch wohl nicht nur die Funktionäre.
17. Juli 1990
So viele Energien in den Startlöchern, bereit zum Sprung –
Zwei Ungleichheiten: 1. Gedanken ungleich Worte; – 2. Worte ungleich Taten.
Manche sagen, Gorbatschows Text sei gut, aber unwirklich. Worte, denen nichts gefolgt sei. Und doch ist eine Revolution im Gange! Allerdings könnte sie in eine Konterrevolution münden. Dies dadurch begünstigt, dass dem Zerstören kaum ein neuer Aufbau entspricht.
25. Juli 1990
Perestrojka-Journal. – Erich Wulff, dem ich große Teile zu lesen gegeben hatte, schreibt dazu: »Es wirkt fast wie ein Drama, eine Schicksalstragödie, was da abläuft, an welcher der Seher auch nichts mehr ändern kann. Vielleicht ist ein bisschen zu kurz gekommen die rückblickende Reflexion darüber, weshalb die anderen Alternativen – Demokratisierung der DDR nach dem 9. November – sich als Illusionen erwiesen haben. Was und wann wurde Entscheidendes versäumt? Oder: gab es danach nichts mehr, was versäumt werden konnte? Irgendwann im November oder Dezember schätzt Du die Wiedervereinigungsparolen noch als ganz randständig, extrem ein – und nicht lange danach beherrschen sie nicht nur das Bild, sondern sind auch allesamt international akzeptiert.«
6. August 1990
Gestern bei Helmut Steiner, in seiner von Büchern und Papieren belagerten Wohnung am Prenzlauer Berg. Seine Frau, Roswitha März, eine Mathematikerin, hat fünf Jahre in Leningrad studiert. »Mathematiker beweisen Sätze.« Steiners Vorstellungen vom Nacharbeiten der Vergangenheit hängen noch in dieser. Das Unrecht, das den Bloch, Kofler, Trotzki zugefügt wurde, soll gutgemacht werden. Aber, sage ich, ihr verfehlt die Gegenwart.
8. August 1990
Inzwischen Jelzin angeblich »Hauptstütze« Gorbatschows. Die Stäbe der beiden arbeiten gemeinsam am Übergangsplan.
Türkei. – 75 Prozent Inflation. Hauptgrund: 50 Prozent des Staatshaushalts gehen für den Schuldendienst an westliche Banken drauf. In Istanbul würde der Durchschnittslohn gerade zum Mieten einer bescheidenen Wohnung reichen. Die guten Nachrichten gelten dem andern Extrem der Gesellschaft: Seit 1986 sind die Börsenkurse um 3000 Prozent gestiegen. Allein von Januar bis April 1990 um 50 Prozent! Der Export besteht zu 70 Prozent aus Rohstoffen, 10 Prozent sind Konsumgüter.
Börsenkrise in Tokio und New York. Die USA vor der Rezession. Die Invasion Kuwaits durch den Irak hat die Ölpreise hochgetrieben, was zusätzlich niederdrückend auf die US-Konjunktur wirkt.
9. August 1990
Von Ilse Ziegenhagen erfahren, dass »Sonntag« (DDR) und »Volkszeitung« (BRD) fusionieren.
10. August 1990
In der »Volkszeitung« schreibt Reinfried Musch: »Wenn man was zusammenholen will, was an Sozialismus-Theorie auf marxscher Grundlage in der DDR da ist, muss man es von draußen tun. Es wird von drinnen nicht mehr gehen.« Er hat das Gefühl, dass von der westlichen Linken die Situation nicht verstanden wird. »Sie wollen nicht selbst herausholen, was hier vorhanden ist, sie nehmen nur, was abfällt.« – Wenn ich nur wüsste, wie nehmen.
In der gestrigen FAZ das Entsprechende von Unternehmerseite: die Aktivität müsse vom Westen ausgehen.
16. August 1990
GB, ursprünglich Maurer, dann »Philosoph«, arbeitet jetzt als Nachtportier. Versucht, geistig am Leben zu bleiben. Will zurück in die Wissenschaft. Aber das könnte nur »mönchisch« gelingen, neben der Lohnarbeit.
Die Leitglosse der heutigen FAZ (Heike Schmoll, »Kirche nach dem Sozialismus«): »Dass Gott die Mauer zu Fall gebracht habe, ist nur ein Beispiel für Aussagen, die sich anmaßen, Gottes unbestrittenes [!] Handeln in der Geschichte direkt zu deuten und im einzelnen zu benennen.«
20. August 1990
Frigga hat eine Einladung zur Teilnahme an jenem nach dem Schneeballprinzip verfahrenden System erhalten, wo man an den Erstplazierten 30 DM überweist, so und so viele neue Leute zur Mitwirkung anwirbt und dafür auf der Liste der Berechtigten einen Platz erwirbt (den vierten), der mit jedem Durchgang eins aufrückt. Auf die Weise soll man rechnerisch nach kurzer Zeit zigtausend Mark erhalten können. In Wirklichkeit bricht die Kette irgendwann zusammen, einige haben sich bereichert, die große Menge geht leer aus, bzw. zahlt die Spesen. Da man nicht wissen kann, wann die Kette reißt, ist es ein Glücksspiel. Wir hatten von solchen geldreligiösen Praktiken gehört, pflegen alle derartigen Aufforderungen in den Papierkorb zu werfen. Aber hier zögerten wir, denn unter den vier Namen waren drei, die wir kannten, zunächst Albert E., bis vor kurzem Redakteur der »Marxistischen Blätter«, jetzt Herausgeber von »Z« (»Zeitschrift für marxistische Erneuerung«). An letzter Stelle stand Therese Dietrich, eben die, welche noch vor wenigen Wochen in unserm Ost-West-Workshop Labica referiert und danach ihr Ausscheiden aus dem marxistischen Projekt erklärt hatte. Beklemmung. Wir fühlen uns wie damals, als wir davon erfuhren, dass einer unserer langjährigen Mitforscher aus dem »Projekt Ideologietheorie«, Herbert B., der Scientology-Sekte beigetreten war.
22. August 1990
Arnold Schölzel nun PDS-Vorsitzender an der Humboldt-Uni. Micha Brie sein Stellvertreter. André Türpe kandidiert für die PDS zum Magistrat. Unsere Forschungsgruppe ist also über diese Personen stark mit von der Partie. Benno Hirschmann sagt fünf Jahre Strudel voraus, in den wir hineingezogen werden. Er spricht mit dem Triumph des gewohnheitsmäßigen Überbringers schlechter Nachrichten.
25. August 1990
In eine Liste der feigen Umbenennungen aufzunehmen: Werner Tübkes »Bauernkriegspanorama« heißt künftig »Panorama Bad Frankenhausen«.
Kapitalistische Internationale. – »Die politische Führung der Nato arbeitet im Bewusstsein, dass die heutige Welt Einzelgänge von Staaten allein wegen der wirksamsten ›Internationale‹, dem weltweiten Kommunikationsnetz von Industrie, Banken und Technik, nicht zulässt – zumindest nicht im industrialisierten Gebiet der Nordhalbkugel unserer Erde.« (Jan Reifenberg, »Von der Abschreckung zum Konsens«, in: FAZ)
Die nächste Kriegsfront. – »Der Kalte Krieg war der Dritte Weltkrieg, viel kostspieliger als der zweite«, sagte Falin. Die nächste Kriegsfront wird bereits rekognosziert. Sie erscheint als »Folge des jahrzehntelangen Luxus einer ausschließlichen Beschäftigung mit dem Ost-West-Gegensatz […]. Nukleare oder durch Androhung des Einsatzes chemischer Waffen ausgeübte Erpressung im ›Gürtel der Instabilität‹ der islamischen Staaten von Pakistan bis Marokko kann weit gefährlicher werden als zu Zeiten des Kalten Krieges.« (Reifenberg, ebd.)
26. August 1990
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