Название: Spielen! Was sonst?
Автор: Erny Hildebrand
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783960088073
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Aber die Spielregeln änderten sich, als Wilhelms Vater im ersten Weltkrieg fiel. Dessen Tod machte Wilhelm mit acht Jahren zum Oberhaupt über Mutter und zwei kleine Schwestern. Nach seinem Empfinden hätte ihm auch der erste Platz in der Großfamilie zugestanden. Aber dieser Platz blieb ihm verwehrt. Der Stammsitz der Familie, das Haus des Ururgroßvaters, ging an die weibliche Linie, was mein Großvater Zeit seines Lebens als blutende Wunde mit sich trug. Um sein Erbe gebracht, verkannt und hintergangen, wurden für Wilhelm Verwandtschaft generell und erbberechtigte Frauen im Besonderen zum roten Tuch. Das Zerwürfnis führte dazu, dass Wilhelm später alles daransetzte, es dem gesamten Dorf zu zeigen, was ihn zusammen mit einer genialen Begabung fürs Kerngeschäft zu einem hervorragenden Geschäftsmann machte, der den Grundstock für ein äußerst erfolgreiches Unternehmen legte.
Seine Traumatisierung aber blieb allgegenwärtig in der Familie. Bei den kleinsten Anzeichen abweichender Meinung explodierte Wilhelm: „Ich enterbe euch“. Als Kind lebte ich in einem Dorf mit mehr oder weniger weitläufigen Familienmitgliedern in beinahe jedem Haus. Aber außer den beiden Schwestern meines Großvaters kannte ich niemanden aus der Verwandtschaft. Es gab keinerlei Kontakt. Mich wiederum kannte jeder. Ich weiß noch genau, wie ich eines Tages im Kaufladen stand und mich eine Kundin – wie damals üblich – fragte, wer ich denn sei, und wie die Krämerin sagte: „Ja kennst du die nicht? Das ist doch dem Zippel Dieter seine Tochter!“ Woraufhin ich neugierig von oben bis unten gemustert wurde. Meine Mutter hatte mich angewiesen, jeden, der mir begegnete, zu grüßen. Was, wenn ich es unterließ, zu Beschwerden führte, ob ich mich denn für etwas Besseres halten würde. Das Grundgefühl, im Dorf nicht zu Hause und verwurzelt, aber unter ständiger Beobachtung zu sein, führte dazu, dass ich es dauerhaft verließ, sobald sich mir die Gelegenheit dazu bot, und dass ich heute überzeugte Städterin bin.
Nach meinem Urgroßvater fiel auch noch sein Neffe im Krieg, der einzige männliche Nachkomme außer meinem Großvater. Aus Trauer über diesen Verlust spendete mein Urgroßonkel dem Dorf eine zweite Kirchenglocke, die nun heute und geplant bis in alle Ewigkeit bei jedem vollen Schlag der Stunde mit einem tiefen Klang an den verlorenen Stammhalter erinnert.
Nach diesem weiteren Drama wurde Wilhelm endgültig zum Majoratsherrn – allerdings zunächst ohne eigenes Reich. Denn trotz der vielen Nachkommen meines Ururgroßvaters, der bei seinem Tod 88 Enkel und Urenkel hinterlassen hatte, war Wilhelm nun der einzige Namensträger der Familie. Auch diese Geschichte habe ich immer wieder gehört.
Ich habe noch den dumpfen Geruch im Kellergewölbe meiner Großeltern in der Nase, wenn ich wieder mal einen Krug Wein holen sollte. Von dort, wo nach der Erzählung meiner Cousine irgendwo Gold- und Silberbarren verborgen lagen. Oft ging es in unseren Gesprächen als Kinder um diesen Schatz. Es war uns beiden klar, dass wir mit niemandem darüber reden durften. Wir wussten es einfach. Es muss der Ton der Stimmen gewesen sein, verschwörerisch und anders als sonst im Gespräch, den meine Cousine bei ihren Eltern gehört hatte, und der dieses Geheimnis schuf.
Mit der Gewissheit des Schatzes stieg ich als frühe Geheimnisträgerin in den Keller und fragte mich, wo genau er wohl verborgen war? Vielleicht hinter den Einmachgläsern mit Birnen und Reineclauden, die auf den Holzregalen lagerten, für den Fall, dass der Russe kommen und die Versorgungslage wieder knapp werden sollte.
Was ein Erbe ist, wusste ich als Kind nicht. Wohl aber, dass es ein Erbe gibt. Ich hörte so oft davon reden, dass es zu einem ständigen Begleiter für mich wurde. Später, als junge Erwachsene, erlaubte mir die vermeintliche Aussicht auf ein Erbe ein sehr freies Leben, wenn ich mich auf immer neuen Gebieten bemühte, mir und anderen die Bedeutsamkeit meiner Existenz zu bestätigen. In meiner Familie interessierte sich niemand groß dafür. Nicht dafür, dass ich als erstes Mitglied und als Mädchen vom Dorf erfolgreich ein Politikstudium abschloss, trotz des Dialekts, der zum Dorf gehört und seine Bewohner in der Welt des Dorfes festhält, oder dass ich an Universitäten unterrichtete, dass ich in der Softwareindustrie sehr viel Geld verdiente, dass ich einen Doktor machte, dass ich bei der Exzellenzinitiative mitwirkte, dass ich quer durch Deutschland Impulsreferate vor Hunderten von Zuhörern hielt, dass ich ein eigenes Trainingsprogramm entwickelte, das ich von Krankenkassen finanziert mit meinen Mitarbeitern an Schulen einführte, und auch nicht dafür, dass es mir als erster berufstätiger Frau in der Familie gelungen ist, meinen Lebensunterhalt unter allen Lebensumständen immer selbst zu bestreiten. Das alles wurde nur als Hintergrundgeräusch wahrgenommen, wenn ich davon erzählte, aber nicht als eigentlich von Interesse, denn man war doch immer sehr mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt, vor allem mit der alles entscheidenden zukünftigen Majoratsherrschaft. Und das ganze akademische Gedöns hatte in anderen Firmen nur dazu geführt, dass die Doktoren alles ruiniert haben.
Und nun ist es doch noch so weit gekommen. Weihnachten 2014, im Alter von 57 Jahren, wurde mir die Weihe erteilt, als mein Vater aus einer plötzlichen Erkenntnis heraus verkündete: „Eigentlich bist du ja der Majoratsherr!“ Was im Grunde vor allem eines besagt, nämlich dass es schon immer ein Akt der Willkür war, wem in der Familie diese Rolle zugesprochen wurde. Hilfreich war aber sicher, dass sich zwischen meiner Geburt und meiner Ernennung zum Majoratsherrn nicht nur in meiner Familie die Spielregeln völlig verändert haben. Frauen dürfen ihren Namen auch in der Ehe behalten, können diesen an ihre Kinder vererben und damit Stammhalter werden. Sie können heute sogar Bundeskanzler werden. Oder Verteidigungsminister. Und hin und wieder in sehr besonderen Fällen auch Wirtschaftskapitän. So wie nun ich. Ich habe die Absicht, die Rolle des Majoratsherrn auf eine noch nie dagewesene Weise zu spielen. Möglichst so, dass dieses Gespenst unserer Familie, selbst nicht aus Fleisch und Blut und ohne menschliches Zutun nicht lebensfähig, in mir keine Resonanz findet, um weiter sein Unwesen zu treiben.
Ingrid Basile
1934 in Düsseldorf geboren und aufgewachsen. Ausgebildete Herrenschneiderin, später Büroarbeit im eigenen Handwerksbetrieb und Hausarbeit. Zwei Ehen, 35 bzw. sieben Jahre lang. Drei Kinder, sieben Enkelkinder und ein Urenkel. Ich fahre leidenschaftlich gerne Fahrrad.
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