Название: SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten
Автор: Joachim Gerlach
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783960087731
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Und dennoch kann ich alle Teile zu einem Ganzen zusammenführen.«
Sion de Albanez, der neue Herr, nachdem der alte Marqués vor Jahren alt und unruhig gestorben war, hegte dunkle Gedanken. - Gabriels Existenz wühlte ihn auf. Eine passende Erklärung war ihm möglich, aber er wollte sich die Wahrheit nicht eingestehen.
Zum Vorteil für sein Befinden passierte es nur selten, dass er an den Jungen denken musste, am ehesten noch, wenn er Pablo zu Gesicht bekam. Und diese Seltenheit in der Verwirrung seiner Seele, gepaart mit einer seltsamen Schwäche, verleitete ihn nicht zu grausamen Plänen und ihrer Ausführung.
Die Unruhe, die Sion de Albanez erfasste, wenn er sich der Gegenwart des Jungen bewusst wurde, grenzte an eine unbestimmte Angst. Angst, sie war sonst im Alltag, der keine Geheimnisse barg, und in der Begegnung mit den untertänigen Menschen kein Begleiter seines Lebens.
Umso mehr beschwerte ihn diese unliebsame Empfindung.
So überraschend, wie Gabriel in das dörfliche Leben gekommen war, so überraschend sollte er auch wieder gehen.
Diesen Wunsch, der an Naivität grenzte, hegte Sion de Albanez – wie zuvor sein Vater schon, was sein Geheimnis geblieben war – meist unbewusst, manchmal jedoch heiß in seiner unfreien Seele, auch wenn er nichts für seine Verwirklichung tat. Er, der Herr, der gebieterische und Respekt einflößende, von Kindheit an auf diese Wirkung hin streng erzogene, verspürte eine eigenartige Machtlosigkeit, wenn sich dieses aus dem Reich des Unbewussten aufsteigende Gefühl seiner bemächtigte. Einen Anflug von wissender Verantwortlichkeit gegenüber Pablo und seiner Frau konnte er dabei nicht unterdrücken.
Eine Regung freilich, die immer nur von kurzer Dauer war und keine Nachwirkungen hinterlassen hatte. Ein kaltes Herz hinter regungsloser Miene.
Wenn sein Herz auch bei Gabriel nur kalt geblieben wäre.
Aber es reagierte mit Abwehr, schlug höher und besorgte ihn. – Fatal! Eine Schwermut an Gedanken, die ihn belastete. Ablenkung zwar durch die täglichen Anforderungen, doch der Nachhall der Schicksalsglocke verstummte nicht.
*
So ging die Zeit dahin, über die Küste des Lichts und die dahinter liegende Landschaft und die Menschen hinweg, und formte sie, das Land unmerklich, die anderen aber mehr oder weniger deutlich. Vor dem Ablauf der Naturkreisläufe, vor dem ewigen Wechsel von Tag und Nacht, vor dem immer währenden Zug der Sterne über den immer gleich anmutenden Nachthimmel, vor dem nie enden wollenden Rhythmus der Gezeiten und vor dem immer gleichen Ablauf des Alltags der Menschen schien deren Entwicklung, ihr Erwachsenwerden und ihr Dahingehen die einzige Veränderung in diesem von Gott nur wenig besuchten Zipfel der großen Welt zu sein.
Und doch hatte sich schon eine Veränderung eingenistet, die mit wachem Blicke längst zu bemerken gewesen wäre und die nach ihrer Offenbarung für ein Entflammen nie gekannter und nie gelebter Empfindungen sorgen sollte.
Gabriel war eben um die acht Jahre alt, als sein kleines Leben, die Winzigkeit seiner Welt, jäh von einem Augenblick zum anderen eine tiefe Wandlung erfuhr und er die vorgezeichnete Bahn seines Daseins endlich betrat.
Ein Aufschrei auf dem sonnenüberfluteten Marktplatz, auf dem sich zu der späten Vormittagszeit viel Volk aufhielt, beendete alle Beschaulichkeit und seine Kindheit.
»Mutter, schau! Gabriel hat keinen Schatten!«
»Was redest du da, Junge?«
»Doch schau, es ist wahr!«
Ein Blick, der Aufschrei der Mutter, das Herumfahren der Menschen und die Feststellung von Gabriel, dass er betroffen war, das alles dauerte nur wenige Momente. Er schaute die Frau mit ihren verschreckten Augen an, dann Ramon, den Jungen, der sein Geheimnis, um das er selbst nicht wusste, entlarvt hatte, sah vor sich auf den Boden, blickte zu den Seiten, schaute hinter sich, aber er konnte keinen Schatten von sich ausmachen. Erst Verwunderung, dann schon der Anfang von Verzweiflung, die in ihm aufstieg. Der Abgrund einer Hölle begann sich in Sekundenschnelle aufzutun. Ein Abgrund, der ihn in die Tiefe reißen würde, sich anschickte, ihn zu verschlingen, ohne dass er aus der Welt verschwand. – Wie konnte das sein?
Die Frage stellten sich ebenso alle, die in befremdender Neugier herbei eilten.
Behäbiges Dorfleben unter südlich heißer Sonne, das von einem Moment zum nächsten einem Aufruhr gewichen war.
Um Gabriel herum bildete sich ein Kreis, türmte sich eine unüberwindbare Mauer aus Leibern, die immer bedrohlicher wurde, weil die Hinzukommenden die vor ihnen Eingetroffenen nach vorne drängten.
Die magische Linie, gut drei Schritte zu Gabriel mochte sie betragen, wurde aber unter heftiger Gegenwehr der von hinten Bedrängten, die all ihre Körperkraft zum Abstand halten aufwenden mussten, nicht überschritten.
Nur nicht von dem Jungen berührt werden. Nur nicht zu nahe kommen.
All das, was ihnen in ihrer Lebenszeit über den Satan und die dämonischen Mächte beigebracht worden war, dem sie sich in dem sicheren Glauben, dass sie wohl nicht heimgesucht würden, so gerne schaudernd überlassen hatten, war jetzt präsent, so unglaublich, zum tiefsten Fürchten nah.
Schau, er hat tatsächlich keinen Schatten! Welche Ungeheuerlichkeit! Er steckt sicher mit dem Teufel im Bunde!
Das Seelenheil war in Gefahr. Diese Befürchtung gesellte sich instinktiv zu ihrer Neugier. Alles Fremde, alles nicht Erklärbare wurzelte in Satans Reich.
Gabriel, dieser so weiche, so empfindsame Junge mit seinen mädchenhaften Zügen, er bekam es mit der Angst zu tun. Er hatte Angst vor der Menge, die ihn mit ihren augenblicklich finsteren und gereizten Blicken ausgrenzte. Und er hatte Angst vor sich selbst. – Er war anders als die anderen.
Tiefe Scham überkam ihn, heißes Blut durchströmte ihn, sein Herz hämmerte, so als würde es zerspringen wollen.
Würde es das doch tun, dachte er flehentlich. Er hatte kein Recht zu sein. Eine schmerzliche, rasch sich einstellende Empfindung.
Sekunden, Augenblicke, in die sich die Ewigkeit eingrub. Die Zeit hörte auf zu fließen, war in diesen Augenblick gemündet und schien ihn nicht überwinden zu können.
Erste Feindseligkeiten waren zu vernehmen.
»Ich hab es mir immer schon gedacht. Der Junge ist mit der Finsternis im Bunde. In unsere Mitte gebracht, um uns alle zu verderben!«
Cisco, der Metzger des Dorfes, war schnell seine Meinung losgeworden.
Die Alten schwiegen. Niemand ergriff das Wort für Gabriel. Die Kinder des Dorfes, seine Freunde, die bis eben noch ein Teil seiner kindlichen Seele gewesen waren und jetzt aus ihr heraus stürzten, blickten ihn ängstlich an, als fürchteten sie, auch von dieser Krankheit ergriffen zu werden. Einige, darunter auch Ramos, der Gabriels Makel entdeckt hatte, sahen nach, ob sie selbst noch einen Schatten warfen.
Die Situation wird unerträglich für Gabriel. Er will nur noch fort, fort von diesem Platz, fort von allem Vertrauten, was zu verschwimmen begonnen hat, fort in die ewige Fremde.
»Was habe ich euch getan? Lasst mich gehen!«
Leise formen sich diese Worte einer plötzlich einschießenden Gegenwehr auf seinen Lippen, ohne dass sie eine Reaktion bedingen.
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