Название: Abenddämmerung im Westen
Автор: Wieland Becker
Издательство: Автор
Жанр: Философия
isbn: 9783957448095
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GESCHICHTSLOS, RATLOS, PLANLOS ... WARUM FINDET DIE WELT KEINEN FRIEDEN?
I. Leben zwischen Krieg und Frieden
Geboren wurde ich am 31. August 1939, also am letzten Friedenstag im „Tausendjährigen Reich“. Meine ersten Erinnerungen bestehen aus fragmentarischen Bildern, die – was mir natürlich nicht bewusst sein konnte – mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden waren. Mitten in einer Nacht wachte ich auf und jemand beugte sich über mich. Das Licht einer Wandleuchte war durch Rauch verdunkelt, sodass ich nur eine weiße Haube erkennen konnte, bevor ich wieder einschlief. Das nächste Erinnerungsstück ist eine riesige erleuchtete Halle, in der ich auf dem Fußboden lag. Und später, als ich nochmals die Augen öffnete, wurde ich durch eine Straße getragen und auf der rechten Seite stand ein Haus in Flammen und unzählige Funken flogen in den dunklen Himmel.
Später erfuhr ich dann den Verlauf jener Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1943. Ich lag frisch operiert in der Leipziger Kinderklinik, die durch Bomben zerstört wurde. Die Schwestern retteten ihre Patienten und brachten sie in einen nahegelegenen Bunker. Nach der Entwarnung machte sich meine Mutter auf den kilometerlangen Weg zum Krankenhaus. Sie wusste bereits, dass die Kinderklinik schwer getroffen worden war. Sie fand mich und trug mich durch das brennende Leipzig nach Hause. Erst viel später wurde mir klar, dass ich dieser Krankenschwester, deren Haube das einzige ist, woran ich mich erinnere, mein Leben verdanke.
1944 wurde unsere Familie – meine Mutter mit uns fünf Geschwistern – in den damaligen Sudetengau evakuiert. Unser Vater, damals schon Anfang 40 und auf einem Auge fast blind – war zu dieser Zeit doch noch zur Wehrmacht eingezogen worden. Dort – in Teplitz-Schönau – erlebten wir den Einmarsch der Roten Armee, genauer wir hörten unten im Tal das Dröhnen der Panzer. Irgendwann begann der Weg nach Hause quer durch Sachsen und – nach einem längeren Aufenthalt in einem Barackenlager bei Wurzen – durften wir die Mulde auf einem Steindamm überqueren und standen schließlich vor unserem Holzhaus, das ich, wie ich meinte, zum ersten Mal sah. Schließlich kam auch unser Vater nach Hause.
Im Gegensatz zur Innenstadt war unser Leipziger Vorort Probstheida kaum zerstört. Nur das Völkerschlachtdenkmal war durch Granatfeuer auf einen der unteren Bögen beschädigt. Dort, so erfuhr ich später, hatten sich die letzten fanatischen Verteidiger Leipzigs verschanzt.
Die Trümmerlandschaft Leipzigs sahen wir nur dann, wenn wir „in die Stadt“ fuhren. Im Gedächtnis blieben mir die Ruine der Johanniskirche und der zerstörte Hauptbahnhof.
An den Krieg erinnerten die Kriegsversehrten – Männer mit ihren Krücken, das eine Hosenbein am Gürtel befestig, oder jene, die eine dunkle Brille trugen und die gelbe Armbinde mit den schwarzen Punkten, oder der Mann ohne Beine, der sich auf einem aus Brettern und Kugellagern selbstgebauten Gefährt mit Hilfe der Hände vorwärts bewegte.
Als wir drei Jungen 1951 mit unserem Vater in die Sächsische Schweiz nach Bad Schandau fuhren, machten wir in Dresden Station; auf dem Weg zur Dresdener Diakonie, in der eine unserer Tanten tätig war, führte unser Weg durch eine endlose Trümmerlandschaft, mit einem schmalen begehbaren Streifen, den die Trümmer nicht bedeckten. Damals dachte ich dass es unmöglich sei, diese Trümmerberge jemals zu beseitigen. An die Jahre nach dem Krieg habe ich – abgesehen vom Hunger, von der beißenden Kälte im Winter und dem Lebertran – viele gute Erinnerungen. Im November 1945 wurde ich eingeschult – mit Griffel und Schiefertafel. 1947 und 1949 kamen zwei Schwestern hinzu, sodass wir Jungen jetzt von vier Schwestern „eingerahmt“ waren, bis heute.
Der Generation zugehörig, die in früher Kindheit mitbekam, dass Krieg war und mit den Folgen dieses Krieges schon bewusster umging, wurde ich von Sätzen wie „Nie wieder Krieg“ oder „Wer jemals wieder ein Gewehr anfasst, dem soll die Hand abfallen.“ beeinflusst. In den ersten Nachkriegsjahren prägten sie auch uns Kinder – in gewisser Weise bis heute.
Dem Frieden, den sich – nach den bitteren Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges – so viele so sehr erhofft hatten, war keine Dauerhaftigkeit beschieden. Im geteilten Deutschland waren schon wenige Jahre später wieder militante Töne zu hören. Es war der „Kalte Krieg“, der zur Wiederaufrüstung im Osten wie im Westen führte. Der Kommunismus bedrohe den Weltfrieden hieß es auf der einen Seite – die Imperialisten unterdrückten andere Länder und plünderten sie aus – auf der anderen. Selbst die alten NS-Eliten aus Militär, Justiz und Wirtschaft wurden dort rehabilitiert, weil sie im Kampf gegen den schlimmsten Feind der Menschheit, den Bolschewismus, dringend gebraucht würden. Und schon Ende der vierziger Jahre gab es die ersten Nachrichten von neuen Kriegsschauplätzen, fern von Europa und doch sehr nahe.
So war es irgendwie folgerichtig, dass ich mich sowohl mit dem vergangenen Krieg als auch mit NS-Diktatur zu beschäftigen begann. Denn deren „Spuren“ waren täglich gegenwärtig: Trümmerberge, Begegnungen mit Überlebenden der Konzentrationslager im Bekanntenkreis der Eltern oder in der Schule, Klassenkameraden ohne Väter… Und dazu Filme und Bücher.
Das wahrscheinlich erste filmische Dokument zur NS-Zeit, das ich bewusst sah, war der von britischen Kameraleuten gedrehte Film über die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Noch heute sehe ich diese Bilder vor mir: Eine Planierraupe, die Berge von ausgemergelten Toten, in Häftlingskleidung oder nackt, in ein Massengrab schiebt, wo sie in schrecklichen Verrenkungen auf die bereits im Grab befindlichen Körper fallen.
Es gab Ende der vierziger Jahre die ersten Filme, von denen der polnische Film „Die letzte Etappe“ (Ostatni etap/ 1948) der einprägsamste war, selbst wenn man nicht wusste, dass die Regisseurin Wanda Jakubowska und die Verfasserin des Szenariums, Renate Deutsch, zu den Überlebenden von Auschwitz gehörten und drei Jahre danach wieder in das Todeslager gingen, um dort diesen Film zu drehen. Auch ohne dieses Wissen spürt man die besonders bedrückende Authentizität dieses Films. Es wären noch sehr viele Filme und Bücher aus aller Welt zu nennen, die mir ebenso bis heute wichtig sind, wie auch eine Vielzahl historischer Betrachtungen, Analysen und Dokumentationen zum II. Weltkrieg und den folgenden Kriegsschauplätzen, die seitdem verfasst wurden. Wenn ich hier Konstantin Simonow nenne, dann deshalb, weil zwei der Titel seiner Romantrilogie für mich zu grundsätzlichen Fragen führten: „Man wird nicht als Soldat geboren“ und „Die Lebenden und die Toten“.
Exkurs zum Soldatenleben zu DDR-Zeiten
Wenn ich mich an die 60er Jahre erinnere, dann gehört die Kubakrise zu den Ereignissen, die mir auch deshalb im Gedächtnis blieben, weil sie mit persönlichen Erlebnissen verbunden war. Mein jüngster Bruder diente in dieser Zeit als Unteroffizier in der Nationalen Volksarmee. Mit Ausbruch der Krise wurde seine Einheit in Alarmbereitschaft versetzt. Das hieß 24-Stunden-Dienst in einem Bunker (im Rhythmus von jeweils 8 Stunden Dienst, Bereitschaft und Schlaf, über Wochen). Statt im August wurde er erst im Oktober entlassen. Gesehen haben wir ihn in diesen langen Wochen nicht einmal. Von den bei Erfurt stationierten Einheiten war schon damals „bekannt“, dass sie, gleich ob Abwehr oder Angriff, innerhalb der ersten 24 Stunden völlig aufgerieben sein würden.
Denke ich an die 70er Jahre, so erinnere ich mich – damals 34jährig – an meinen Einberufungsbefehl, der mich für einen halbjährigen Wehrdienst verpflichtete. (Er kam insofern überraschend, da ich mit 24 Jahren ausgemustert worden war.) Die Grundausbildung mit ihren körperlichen Anforderungen und den kleinen und großen Schikanen bewältigte ich recht gut. Was mich besonders interessierte war, wie das System Armee funktionierte. So diente und beobachtete ich …
Unfreiwillig war ich ein sehr guter Schütze. Dieser Umstand forcierte mein Nachdenken über die Frage, ob ich mit der Kalaschnikow auch gezielt auf Menschen schießen würde. Obwohl ich mir das anfangs nicht vorstellen konnte, begriff ich in diesen Monaten, dass auch ich schießen müsste, СКАЧАТЬ