Название: Geschwisterliebe
Автор: Stephan Hähnel
Издательство: Автор
Жанр: Исторические детективы
isbn: 9783955520410
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Otto Kappe musste nichts in Kreuzberg erledigen. Er hatte dies nur vorgegeben, um ungestört zu sein. Nach dem Gespräch mit Kriminalrat Friedhelm Keunitz war er in den neuen VW Käfer gestiegen, den sich seine Frau Gertrud und er Anfang des Jahres geleistet hatten. Inzwischen war er fünf Stundenkilometer schneller unterwegs, als die Polizei erlaubte. Warum er geradewegs zum Kreuzberg fuhr, wusste er selbst nicht. Er stellte das Auto in der Methfesselstraße ab. Zügig ging er an den vor zwei Jahren angelegten Weinstöcken vorbei. Normalerweise schmunzelte er über derartige Ambitionen. Einige Enthusiasten glaubten ernsthaft, dass Berlin auch als Weinstadt einen Ruf zu verteidigen hatte. Tatsächlich hatten Bauern vom 15. bis zum 18. Jahrhundert auf der ursprünglich Götzescher Weinberg genannten Erhebung Weinbau betrieben. Einen Namen für den Rebensaft, der hier künftig wieder hergestellt werden sollte, gab es auch schon: Kreuz Neroberger.
Kappe ließ sich auf einer Bank unterhalb des gusseisernen Nationaldenkmals für die Siege in den Befreiungskriegen nieder und erinnerte sich an einen Sonntag im September des vergangenen Jahres. Es war ein wunderbarer Tag gewesen, der letzte für eine lange Zeit. Gertrud und er hatten auf der Terrasse des Blockhauses Nikolskoe gesessen, mit Heißhunger riesige Wiener Schnitzel verspeist und die freie Zeit genossen. Von dort bot sich ein wunderschöner Ausblick auf die untere Havel und die Pfaueninsel. Andächtig hatten beide dem Glockenspiel der Kirche St. Peter und Paul gelauscht, die nur einen Steinwurf entfernt lag. Damals hatte er nicht geahnt, dass nur Stunden später kaum einen Kilometer entfernt eine Frauenleiche im Wald gefunden werden würde.
Aus seinen Gedanken auftauchend, starrte Kappe auf das in Form eines gotischen Tabernakels gestaltete Denkmal auf dem Kreuzberg. Die zwölf Genien erinnerten an gewonnene und verlorene Schlachten und waren allesamt preußischen Heerführern und Mitgliedern des Königshauses nachempfunden. Mit der Einweihung des Denkmals war aus dem Götzeschen Weinberg der Kreuzberg geworden, zumindest hatte Kappe das in einem Zeitungsartikel gelesen. Grund für die Umbenennung war wahrscheinlich jenes eiserne Kreuz, das das heroische Denkmal krönte.
Siege und Niederlagen prägten auch Kappes Leben. Erfolge waren für ihn eine Selbstverständlichkeit. Ungelöste Fälle ließen ihn dagegen nachts nicht schlafen. Die jahrelange Arbeit in der Mordkommission war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Sicher, er liebte seinen Beruf, doch all die Verbrechen, mit denen er in seinem langen Berufsleben konfrontiert worden war, wirkten wie eine Bleivergiftung. Die Tote von Nikolskoe glich dem berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Ein Förster hatte die Überreste der jungen Frau, die im Unterholz des Düppeler Forstes versteckt worden waren, gefunden. Einen Tag später hatte Kriminalrat Keunitz den Fall Kappe und seinen Kollegen übertragen. Kappe hatte als Erstes mit dem Mann gesprochen, der den Fund gemeldet hatte. Genau genommen war Trotzki, der Dackel des Försters, der Entdecker der Leiche. Der Waldhüter gab zu Protokoll, dass er gerade die Überprüfung eines Spätbrutplatzes der vom Aussterben bedrohten Schleiereule abgeschlossen hatte und auf dem Rückweg gewesen war, als sein Hund sich aufgeregt gebärdet habe. Er habe einen Augenblick zu spät reagiert, aber schon geahnt, dass etwas nicht stimmte. Trotzki sei unruhig um einen Stapel Holz herumgerannt und habe herzzerreißend gejault. Genüsslich habe er dann seinen Oberkörper über etwas Undefinierbarem gewälzt. Für den Förster ein klares Zeichen dafür, dass unter dem Gestrüpp Verwesendes lag. Weiterhin hatte er zu Protokoll gegeben, dass alle Versuche, den Hund zum Einhalten zu bringen, erfolglos gewesen waren. «Trotzki hat sich aufduften wollen, um seinen Eigengeruch zu kaschieren. Die Ausdünstungen von madenzerfressenem Fleisch sind für Hunde so etwas wie Chanel No. 5.» Kappe erinnerte sich noch genau an die Worte des Försters. Erst dann sei dem Mann klar geworden, dass er die Überreste eines Menschen vor sich hatte. Geschockt sei er zurückgewichen, habe aber wahrgenommen, dass der Körper in einem bunten Kleid steckte.
Bei der stark verwesten Leiche handelte es sich um eine junge Frau, Mitte oder Ende zwanzig, mit mittellangen brünetten Haaren, zirka 1,72 Meter groß. Besondere Kennzeichen: keine. Ihr Kleid stammte von C & A und war schon seit einigen Jahren aus der Mode. Dennoch hatte Kappe prüfen lassen, wer dieses Modell produziert hatte, wo es hergestellt und wohin es geliefert worden war. Alle Filialen in West-Berlin und im Bundesgebiet schienen es im Sortiment zu haben. Auch die einschlägigen Versandhäuser. Fast war es Kappe so vorgekommen, als besäße jede modisch bewusste Frau ein Sommerkleid dieser Art.
Das Opfer war erschlagen worden. Das Gerichtsmedizinische Institut im Krankenhaus Moabit hatte eindeutig eine tödliche Verletzung am Schädel nachgewiesen. Der Schlag war mit einem spitzen Gegenstand, einem kleinen Hammer, einem handlichen Eispickel oder etwas Ähnlichem, ausgeübt worden und hatte das Schläfenbein im oberen Bereich zerstört. Wahrscheinlich war der Tod nicht sofort eingetreten. Laut Bericht war entweder ein Blutgefäß, vermutlich die Arteria meningea media, getroffen worden, sodass das Opfer verblutet war, oder es hatte eine durch den Schlag bedingte Gehirnverletzung zum Tod geführt. Der Zeitpunkt der Ermordung lag laut dem verantwortlichen Gerichtsmediziner Dr. Konrad König zwischen Anfang November 1968 und Ende Februar des vergangenen Jahres. Eine genauere Eingrenzung des Zeitpunkts war wegen des Zustands der Leiche und der witterungsbedingten Einflüsse nicht möglich gewesen. Aufgrund des harten Winters 1968 / 69, der als sonnenscheinärmster seit Beginn regelmäßiger Wetteraufzeichnungen galt, war der Verwesungsprozess nur langsam vorangeschritten und die Tote sozusagen bis zum Frühjahr auf Eis gelegt gewesen. Daher die Ungenauigkeit. Noch im März hatte man in Dahlem eine Schneehöhe von 52 Zentimetern gemessen, in Potsdam waren es sogar 70 Zentimeter – Werte, wie man sie zu dieser Jahreszeit noch nie registriert hatte. Die warmen Monate von April bis August hatten den Verwesungsprozess dann aber beschleunigt. Die Tatsache, dass die Tote zum Zeitpunkt ihrer Ermordung ein Sommerkleid getragen hatte, passte nicht zum prognostizierten Todeszeitpunkt und hatte daher für einige Spekulationen gesorgt. Inzwischen glaubte Kappe fest daran, dass der Täter dem Opfer die Kleidung angezogen hatte. Nur warum, war ihm ein Rätsel.
Als die Leiche im September 1969 gefunden worden war, war ihre Verwesung so weit fortgeschritten, dass weder Gesicht noch Fingerabdrücke Auskunft über ihre Identität hätten geben können. Dr. König hatte bei der Obduktion eine chirurgische Schraube gefunden, die auf eine komplizierte Hüftoperation hinwies. Zweifelsfrei musste die junge Frau vor ein paar Jahren einen Unfall erlitten haben, höchstwahrscheinlich einen Autounfall. Da das rechte Bein seitdem etwas kürzer war, ging der Gerichtsmediziner davon aus, dass sie gehinkt hatte. Das gefundene medizinische Implantat wurde seit Jahren in westdeutschen und West-Berliner Operationssälen verwendet. Doch trotz der klar umrissenen Diagnose und der Röntgenbilder des längst verheilten Bruchs fand sich kein Krankenhaus, das eine Patientin mit einer derartigen raktur behandelt hatte. Die Befragungen der Mitarbeiter des Wirtshauses Moorlake, des Blockhauses Nikolskoe und des Restaurants Pfaueninsel an dem Fähranleger brachten ebenfalls keine Erkenntnisse. Und der Ordner mit den Vermisstenmeldungen half auch nicht weiter. Selbst die Nachforschungen bei Interpol verliefen ergebnislos. Niemand schien die Frau zu vermissen. Nach sechs erfolglosen Monaten hatte Keunitz schließlich die Anweisung gegeben, die Akte vorerst im Fach für nasse Fische verschwinden zu lassen. Ein weiterer Fall, der auf eine geniale kriminalistische Eingebung oder einen Zufall wartete. Seitdem ruhte die Unbekannte auf dem Friedhof Schöneberg. Der kleine Stein am Kopf des Grabes trug nur eine Nummer.
Dass der Verfassungsschutz die Tote nun mit Wilfried von Thalmann in Zusammenhang brachte, war kein Zufall, das wusste Kappe. Man hatte einem blinden Huhn ein Korn zugeworfen.
Am Nachmittag kehrte Otto Kappe in sein Büro zurück. Auf seinem Schreibtisch fand er eine schmale Akte, einen kurzen Bericht über Wilfried von Thalmann, geborener Böttcher. Galgenberg hatte die Unterlagen wie immer akkurat zusammengetragen. Daneben lag ein Zettel: Bin in der Stadtbibliothek, Zeitschriften schmökern. Und СКАЧАТЬ