Название: Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen
Автор: Nadia Bolz-Weber
Издательство: Автор
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783865068033
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Einmal stand ein junges Pärchen bei uns auf der Matte. „Wir sind Freunde von den Slaters aus Detroit und gerade auf Durchreise in Denver. Sie haben gesagt, wir könnten vielleicht hier übernachten.“
„Zieht euch ein Sofa aus“, sagten meine Eltern dann. „Hier habt ihr ein paar Handtücher. Helft ihr mir beim Karottenschälen?“
So ging es bei uns zu Hause zu, und es war irgendwie schön. Doch so wie jedes andere Kind auf unserem Planeten merkte ich erst viel später, wie komisch meine Familie eigentlich war. Im Gegensatz dazu, wie ich über den christlichen Fundamentalismus dachte, von dem ich mich bald trennen würde, habe ich nie aufgehört, diese geistliche Merkwürdigkeit der Gastfreundschaft und Gemeinschaft zu schätzen. Und ohne es zu merken, verbrachte ich die nächsten zehn Jahre mit dem Versuch, mir selbst so eine geistliche Gemeinschaft zu erschaffen. Nur war ich auf der Suche nach einer Gemeinschaft, in die wirklich alles an mir hineinpasste.
Kurz, ich war begeistert davon, dass ich Albion Babylon gefunden hatte. Wir fühlten uns wie eine Gemeinschaft. Wir lachten jede Menge in unserem ebenerdigen Apartment, tranken um die Wette und gingen nicht oft vor die Tür. Scotty, der Typ aus dem mexikanischen Restaurant, hatte schon einen Entzug hinter sich. Einmal zeigte er mir ein Buch, dass er angefertigt hatte: eine Art Sammelalbum in einem braunen Umschlag mit Fotos, Zeichnungen und Texten. Das war so ein Selbsterkenntnisprojekt, das er in der Therapie hatte machen müssen. Jetzt versteckte er sein Gras darin. Ich liebte ihn wegen seiner Gedichte und Bilder, und weil er Gras in seinem Patientenalbum aufbewahrte. Es kam mir vor wie ein schallendes „Leckt mich“ an seine Eltern, die sich „solche Sorgen“ um ihn machten.
Daraufhin machte ich mir auch so ein Buch: eine Zeichnung, ein schlechtes Gedicht, eine Liste meiner Helden, meiner Fehler und meiner Stärken. Helden: 1. Jesus Christus, 2. Che Guevara. Stärke: Humor. Fehler: Weglaufen. Ich notierte, Jesus sei ein echter Revolutionär gewesen, und das Christentum hätte leider seinen Ruf ruiniert. Meine Ziele mit neunzehn waren: mehr zu reisen, in einer Kommune oder irgendwie gearteten verbindlichen Gemeinschaft zu leben und durch revolutionäres Handeln zum Weltfrieden beizutragen.
Als mit der Zeit zwei weitere Mitbewohner zu uns stießen, beschlossen wir, uns ein Haus zu mieten, ein Ranchhaus aus hellen Ziegeln an der Humboldt Street, ganz in der Nähe der Iliff School of Theology. Dort würde ich später einmal studieren, aber damals bemerkte ich sie überhaupt nicht. Im Humboldthaus, unserem neuen Zuhause, fühlten wir uns alle frei von Einschränkungen und Konventionen und Bemutterungsversuchen unserer Eltern, und einen Garten hatten wir auch.
Meine Freunde und ich hatten nun also ein richtiges Zuhause, und während der Typ mit den gelichteten Zahnreihen aus Alabama in einigen Zimmern Hydrokulturen für unser Gras anlegte, beschloss ich, mich um die traditionelleren Haushaltstätigkeiten zu kümmern. Ohne die leiseste Ahnung vom Brotbacken oder von der Gemüsegärtnerei zu haben, versuchte ich mich an beidem. In beiden Fällen fielen die Resultate trocken und krümelig aus. Ich schmiss einfach Samenkörner auf den trockenen Boden und dachte, wir könnten von dem leben, was dabei herauskam. Aber es wuchs nichts. Und ich hatte immer noch Hunger. Daneben dekorierte ich den Rand des Linoleumfußbodens in meinem Kellerzimmer mit meinen leeren Wodkaflaschen, die ständig von meinen Mitbewohnern und ihren Freunden und Freundinnen (mit denen ich hin und wieder „versehentlich“ schlief) umgestoßen wurden.
Sonntagmorgens, wenn ich meinen Kater abschütteln konnte, schlich ich mich manchmal, ohne recht zu wissen, warum, zu einer Quäkerversammlung in der Nähe. Das war eine liberale Gemeinde, wo niemand etwas sagte. Ihr Gottesdienst bestand aus einem gemeinsamen Erleben der Stille. Es gab keine Predigt und keine Männer, die sich in endlosen wichtigtuerischen Gebeten ergingen. Es war ein beruhigendes, vertrautes Gefühl, mit einer Gemeinschaft von Leuten auf diesen Eichenbänken zu sitzen. Außerdem gefiel es mir, dass niemand mir dort sagte, was ich tun müsse, um ein guter Mensch zu sein. Die Leute, die an diesen stillen Vormittagen dort um mich herumsaßen, bestellten richtige Gärten und protestierten gegen Kriege und lasen die New York Times. Sie waren freundlich und verloren nie ein Wort über den Geruch des noch nicht vollständig verstoffwechselten Alkohols vom Vorabend, den ich verströmte.
Doch obwohl die Quäker eine Gemeinschaft waren, gehörte ich nicht wirklich dazu. Ich war eher so etwas wie eine Zuschauerin. Meine Gemeinschaft lag ein paar Häuser weiter noch in den Betten und schlief ihren Rausch aus. Doch bei uns zu Hause liefen die Dinge allmählich aus dem Ruder. Die Leute wurden immer schlampiger. Ein Typ hatte sich eine Knarre zugelegt, und unser Redneck aus Alabama hatte angefangen, mit Speed zu handeln. Immer mehr Fremde tauchten bei uns auf. Um den Garten kümmerte sich niemand. Mir war der Garten eigentlich auch egal. Wir alle taten einfach nur das, wozu wir Lust hatten. Ich war von allen enttäuscht, und Brot zu backen versuchte ich auch nur das eine Mal.
Wie sich herausstellte, hätte eine Gemeinschaft, wie sie mir vorschwebte, aus Leuten bestanden, die nicht auf die Idee kamen, den Motor eines 1981er Honda Civic auseinanderzunehmen und vier Monate lang im Wohnzimmer herumstehen zu lassen. Aus Leuten, die, wenn ihr Kater auf meine Bettdecke pinkelte, in Erwägung ziehen würden, den Kater kastrieren zu lassen oder wenigstens die Reinigung zu bezahlen. Sie würden diesen Vorfall nicht einfach als Gelegenheit nutzen, mich mit glasigem Blick darüber aufzuklären, wie verkrampft ich doch sei und dass eigentlich niemand das Recht habe, sich an den Fortpflanzungsorganen eines anderen Tiers zu schaffen zu machen … Mann! Und vielleicht vor allem anderen wollte ich in einer Gemeinschaft mit Leuten leben, die nicht nur imstande waren, ein einstmals froschäugiges Mädchen zu lieben, sondern auch zuverlässig die Toilettenspülung zu bedienen. Und verdammt, vielleicht legten sie auch Wert auf eine Mitbewohnerin, die nicht mit ihren Freunden und Freundinnen schlief.
Am Anfang hatten wir uns gegenseitig gemocht, aber letzten Endes wusste keiner von uns, wie man sich umeinander kümmert. Doch diese Erfahrung lehrte mich, dass eine Gemeinschaft, die darauf fußt, dass Regeln und Vorschriften bei allen verhasst sind, letztlich genauso enttäuschend und bedrückend ist wie eine Gemeinschaft, die auf der Fähigkeit fußt, Regeln und Vorschriften zu befolgen.
Ich zog aus. Zwei Wochen später nahmen die Bullen das Haus auseinander.
Kapitel 4
La Femme Nadia
Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich.
– Römer 7,15 (Luther)
Am Sonntag nach Neujahr 1992 war ich seit sechs Tagen trocken und saß in einem trüben, schmucklosen Raum voller Zigarettenqualm und trockener Frauen – Vorstadthausfrauen, ausgemergelte Cocktailkellnerinnen, ein paar Großmütter und eine Anwältin – im ersten Stock der York Street. Die „York Street“ ist ein altes viktorianisches Haus, das als Zentrumfür Alkoholiker-Selbsthilfegruppen in Denver dient. Der Glanz des Hauses war in den zwanzig Jahren, in denen es durchweg als Treffpunkt für trockene Trinker gedient hatte, ziemlich verblasst. Auf der prächtigen umlaufenden Veranda, auf der vor langer Zeit viktorianische Damen in Korsetten und elegante Herren im Kummerbund lustgewandelt waren, tummelten sich halb volle Aschenbecher, obdachlose Männer und Anwälte, die flugs in ihre Audis schlüpften, um nicht von Kollegen oder Mandanten, die vielleicht СКАЧАТЬ