Название: Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen
Автор: Nadia Bolz-Weber
Издательство: Автор
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783865068033
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Ich weiß nicht genau, ob der Tyrann auf der letzten Sitzreihe zur Serienausstattung aller Schulbusse in Amerika gehört, zusammen mit dem Feuerlöscher und dem großen Türhebel beim Fahrersitz, aber es kam mir jedenfalls so vor. Meine serienmäßige Tyrannin war gar nichts Besonderes: ein Mädchen namens Becky, größer als die meisten anderen, mit zerzausten Haaren, das immer Def-Leppard-T-Shirts anhatte.
Sie bemerkte meine Handflächen über den Augen, und als sie die anderen darauf hinwies, log ich. „Was machst du denn da?“, fragte Becky höhnisch. „Willst du dir etwa die Froschaugen wieder reindrücken?“
„Ich meditiere“, sagte ich. „Buddhistisch.“ Und dann setzte ich mich mit meinen dünnen Beinen im Schneidersitz auf die Bank im Bus.
Am nächsten Tag setzte ich einfach eine Sonnenbrille auf.
Irgendwann fing ich dann an, die Augen zuzukneifen und niemanden direkt anzuschauen, wenn ich durch die niedrigen Flure der Horace Mann Junior High School ging, so wie die Frühentwicklerinnen unter den Mädchen sich ihre Mappen vor die Brust hielten. Doch wenn ich auch die Augen abwandte – das Kinn ließ ich niemals sinken. Nicht ein einziges Mal.
Jeder hat seine eigene Horrorgeschichte aus der Schulzeit. Es ist eine Feuerprobe, und was für ein Mensch schließlich aus uns wird, lässt sich meist in die siebte Klasse zurückverfolgen. Dabei reagiert jeder anders auf seine Schulerlebnisse. Was sich in mir zusammenbraute in jenen niedrigen Fluren, war mehr als nur ein „Zornproblem“, wie es später genannt wurde. Das tägliche Sperrfeuer bösartiger Bemerkungen, das mir Becky und andere entgegenspien, machte mich zwar zornig, aber irgendwie war der Zorn auch ein Schutz. Dieser Schutz bestand aus Zynismus und einem geschärften Gespür dafür, wenn Leute Bullshit erzählen. Nach einer Weile konnte ich das riechen wie ein Drogenspürhund auf einem kolumbianischen Flughafen.
Meiner Kirchengemeinde muss ich bei all ihren Fehlern eines lassen: Sie war der einzige Ort außerhalb meines Elternhauses, wo die Leute mich nicht angafften oder sich über mich lustig machten. In der Gemeinde wurde ich mit meinem Namen begrüßt anstatt mit irgendwelchen Spottbezeichnungen. In der Gemeinde konnte ich zur Jugendgruppe gehören. In der Gemeinde starrte mich niemand an. Deshalb war es auch so schlimm für mich, dass es letzten Endes andere Gründe gab, warum ich dort nicht hinpasste.
Dass ich zur Church of Christ gehörte – und somit Christ war –, bedeutete vor allem, dass ich sehr gut darin war, gewisse Dinge nicht zu tun. Nicht zu trinken natürlich, nicht bissig oder sarkastisch zu sein, keinen Sex außerhalb der Ehe zu haben, nicht zu rauchen, nicht zu tanzen, nicht zu fluchen, mich nicht in Leute außerhalb der Gemeinde zu verlieben und natürlich, was vielleicht das Wichtigste überhaupt war, nicht mit einer gemischten Gruppe baden zu gehen. Je besser man es hinkriegte, diese Dinge nicht zu tun, desto besser war man als Christ. Schon damals kam es mir nicht so vor, dass es die Gnade Gottes oder die radikale Liebe Jesu war, die die Leute in der Church of Christ vereinte; es war ihre Fähigkeit, gut zu sein. Oder zumindest ihre Fähigkeit, gut zu scheinen. Und das kriegt nicht jeder hin.
Während ich also trotz meiner Froschaugen in der Gemeinde akzeptiert wurde, waren die Wut und der Zynismus, die sich in mir infolge dieser Froschaugen angestaut hatten, ganz und gar „nicht christlich“. Meine neu entdeckte Vorliebe für das Wort „Bullshit“ zum Beispiel war nicht christlich. Der Punkrock bewies mir, dass es da draußen noch andere Leute gab, die auch schreien und einen draufmachen wollten, und das veränderte mein Leben. Aber auch Punkrock, Schreien und einen draufmachen waren – nicht christlich. Und damit war ich nicht christlich.
Ich setzte meinen unchristlichen Weg fort, indem ich sechs Monate vor meiner Augenoperation anfing zu trinken. Wenn wir dann vier Jahre vorspulen, war ich eine nun nicht mehr froschäugige Neunzehnjährige mit lila Haaren, einem Alkoholproblem, einem Einstellungsproblem und einem Kein-Tagohne-Joint-Problem.
Die meisten Gleichaltrigen waren inzwischen auf dem College. Ich hatte das auch versucht, war aber schon nach vier Monaten gescheitert. Mit meiner Fähigkeit, zu trinken „wie ein Mann“, hatte ich zwar bei den Verbindungsstudenten mächtig Eindruck gemacht, aber ich hatte es nicht geschafft, mich auch mal im Hörsaal blicken zu lassen. Erst später dämmerte mir, dass es zwischen diesen beiden Dingen vielleicht einen Zusammenhang gab.
Nach meinem eher mittelmäßigen Schulabschluss hatte ich mich, sozusagen, in die Pepperdine-Universität hineingeschmeichelt. Genau genommen war das eine Hochschule der Church of Christ, aber da sie sich in Kalifornien befand und nicht in einem richtigen christlichen Staat wie Texas oder Tennessee, war sie den Traditionalisten suspekt. Bedenkt man, wie die Gemeinde über „gemischtes Baden“ dachte – Jungen und Mädchen gleichzeitig im selben Schwimmbad –, muss ihnen eine Hochschule der Church of Christ im Strandparadies Malibu ähnlich widersinnig vorgekommen sein wie ein amisches Internat auf dem Strip in Las Vegas.
Nach meinem kurzen Ausflug aufs College ging ich zurück nach Denver. Nachdem ich dort ein paar Monate lang in einem schicken mexikanischen Restaurant mit vernachlässigbarem Essen Teller gewaschen hatte, traf ich Scotty, einen neunzehnjährigen Kiffer mit langem Kreuz und großem Herzen, der eine Wohnung in der Albion Street hatte und sagte, da könne jeder unterkommen. Keine Woche später half Barb mir beim Einzug.
An dem Abend, als ich einzog, deutete meine Schwester von der offenen Wohnungstür aus auf den versifften Küchentresen, eine riesige grüne Bong, ein Zimmer voller Matratzen auf dem Fußboden und einen Kerl, der auf einem zerfledderten Sofa schlief. „Schätzchen“, flüsterte sie, „ist das dein Ernst?“
Wir haben nun mal nicht alle das Zeug zur Akademikerin, Barb, dachte ich im Stillen.
Die Wohnung wurde rasch zu meinem Heim und die Leute dort meine Ersatzgemeinschaft. Wir teilten unsere Drogen redlich und versuchten, dafür zu sorgen, dass jeder etwas zu essen bekam. Schon vor meiner Ankunft hatte jemand einen blaugelben „Sag-nein-zu-Drogen“-Aufkleber auf die über einen Meter lange Fiberglas-Bong im Wohnzimmer geklebt. Sie stand an einer nikotinvergilbten Wand, an der ein „Reaganstein“-Poster hing (Ronald Reagan mit grünem Gesicht und Bolzen im Kopf, die Arme drohend erhoben). Gekocht wurde nicht viel in der Wohnung, höchstens mal eine Packung Ramennudeln. (Und einmal briet jemand eine Klapperschlange; eine dieser Suffaktionen, um die Mitbewohner bei Laune zu halten und allen Konventionen zu trotzen. Sie vergammelte, bevor jemand – ich war es nicht – auf den schlauen Gedanken kam, sie auf den Müll zu schmeißen.) Wir nannten unsere Schmuddelbude „Albion Babylon“.
An meinem ersten Abend in Albion Babylon packte ich meine Habe aus und merkte bald, dass die Apfelkiste das einzige Möbelstück war, in dem ich meine Sachen verstauen konnte. Also stellte ich sie auf die Seite wie einen kleinen Geschirrschrank und stapelte darin alles so ordentlich auf, wie es eben ging. Dann nahm ich einen schwarzen Markierstift, zeichnete einen Kreis um den Apfel und überlegte, ob ich ein Friedens- oder ein Anarchiesymbol daraus machen sollte. Frieden. Nein … Anarchie. Ich versuchte, beides zu kombinieren, sodass es schließlich aussah wie irgendein Emblem aus Star Trek. Die alte Matratze auf dem Fußboden bedeckte ich mit einem fröhlich gelb geblümten Laken und meiner Bettdecke. Ich war so dankbar dafür, einen Platz zum Schlafen zu haben, der nicht mit lauter Erwartungen an mich befrachtet war wie mein Elternhaus, mein Wohnheim an der Pepperdine oder, Gott behüte, die Church of Christ.
Doch trotz all dem Blödsinn dort und der Versessenheit darauf, gut zu sein, und СКАЧАТЬ