Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen. Nadia Bolz-Weber
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Название: Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen

Автор: Nadia Bolz-Weber

Издательство: Автор

Жанр: Биографии и Мемуары

Серия:

isbn: 9783865068033

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СКАЧАТЬ wollte ich auch meinen Eltern nichts davon sagen.

      Vielleicht zum ersten Mal in meinen Leben sah ich so etwas wie ein Ziel und einen Sinn vor mir, und das wollte ich mir von ihnen auf keinen Fall kaputt machen lassen. Aber irgendwann mussten sie es ja erfahren. Also saß ich an einem Samstag im November 2005 auf dem überreich gepolsterten Brokatsofa im Wohnzimmer meiner Eltern, und während sie auf das brandneue Tattoo von Maria Magdalena starrten, das jetzt meinen Unterarm bedeckte, setzte ich zu meinem nicht sehr eleganten Geständnis an.

      „Ich … äh … bin sehr gern am theologischen Seminar, und ich muss euch sagen, dass ich meinen Studiengang vom akademischen zum pastoralen Abschluss geändert habe. Also, äh … wisst ihr … ich glaube, es könnte vielleicht sein, dass Gott mich beruft, eine Gemeinde zu gründen, und ich habe so das Gefühl, ich soll Pastorin für meine Leute werden, aber ich habe Angst, und, na ja … ich habe eben Angst, … aber … “ Ich hatte keine Ahnung, ob mein Gefasel irgendeinen Sinn ergab, aber wenigstens war es jetzt heraus. Meine größte Sorge war, sie könnten den Gedanken rundheraus ablehnen und mir eine Standpauke halten, weil ich nicht respektierte, dass die Schrift den Frauen das Lehren verbietet. Ich wusste nicht genau, was ich schlimmer fand – die Möglichkeit, sie könnten mich dazu bringen, mich zu schämen, oder die Tatsache, dass sie dazu überhaupt noch in der Lage waren.

      In diesem Moment stand mein Vater schweigend auf, ging zum Bücherregal und nahm seine abgegriffene, in Leder gebundene Bibel heraus. Jetzt kommt’s, dachte ich, jetzt haut er mich mit dem Bibelknüppel.

      Er schlug sie auf und las. An der aufgeschlagenen Seite sah ich, dass es keiner der Paulusbriefe am Ende des Buches war, sondern eine Stelle irgendwo in der Mitte. Mein Vater las nicht den Abschnitt aus 1. Timotheus, wo es heißt, dass Frauen in der Gemeinde schweigen sollen. Er las aus dem Buch Esther.

      Die einzigen Worte, die ich von meinem Vater zu hören bekam, waren diese: „Aber du wurdest für einen Tag wie diesen geboren.“ Er schlug das Buch zu, und meine Mutter und er nahmen mich gemeinsam in die Arme. Sie beteten über mir und segneten mich. Und manchmal begleitet einen ein Segen, so wie der, den meine konservativen christlichen Eltern ihrer Tochter spendeten, der angehenden lutherischen Pastorin, die ihnen das Leben höllisch schwer gemacht hatte, fürs ganze Leben. Das ist die Sorte Segen, von der man nicht einmal sprechen kann, ohne dass einem wieder die Tränen kommen.

       Kapitel 3

       Albion Babylon

      Circa 1988

      „Jemand sollte mal diese Lampe in Ordnung bringen“, sagte meine ältere Schwester Barbara. Die langen Leuchtstoffröhren in dem düsteren Kellerflur, der zu dem ebenerdigen Drei-Zimmer-Apartment führte, in dem ich jetzt mit sieben Mitbewohnern lebte, flackerte an und aus wie ein Strobespot und ließ unseren Weg zur dritten Wohnungstür rechts trügerisch kurz erscheinen.

      Meine Schwester und ich hatten uns die meiste Zeit meines Lebens sehr nahe gestanden. Sie gab sich auch noch mit mir ab, nachdem ich in diese schmuddelige Wohnung gezogen war. Vor Kurzem hatte ich, schon nach dem ersten Semester, das College geschmissen und besaß nur wenige Habseligkeiten, während Barb gerade ihren Doktor in Englisch an der Universität von Indiana machte und Dinge wie eine Waschmaschine und einen Trockner ihr eigen nannte. Mit meinen neunzehn Jahren besaß ich im Winter 1988 eine einzige Apfelkiste mit lebenswichtigen Dingen: ein zerfleddertes Exemplar der Vegetarischen Landküche, meine Springerstiefel, einen alten Schaufensterpuppenkopf und mehrere unverzichtbare Tonkassetten: Ziggy Stardust, Violent Femmes, Road to Ruin.

      Die Ramones. Ich war zwölf, als ich im Big Apple Tapes & Records, gegenüber vom Zuckermaisstand in der Mall of the Bluffs in Colorado Springs, das Album Road to Ruin erstand. Bis zu jenem Tag hatte es in unserem christlichen Mittelschichthaushalt nur Jim Croce, John Denver und das Kingston Trio gegeben. Doch nun mussten diese Burschen mit ihren manikürten Schnurrbärten und milden Manieren Platz machen für vier Jungs aus Queens, weil ich mein ganzes Taschengeld für Road to Ruin von den Ramones ausgegeben hatte. Wochenlang saß ich jeden Nachmittag in meinem Kinderzimmer und nudelte diese Kassette auf meinem orange-weißen Fisher-Price-Plastikkassettenrekorder ab, während ich das Cover anstierte. Im Stillen hoffte ich, vielleicht würden ja Joey und Dee Dee Ramone wie durch Zauberei in ihren zerrissenen Levis und Lederjacken bei mir zu Hause auftauchen und mich mitnehmen. Die zornige Punkmusik kam mir vor, als wäre sie eigens für mich gemacht.

      Als meine Liebesaffäre mit den Ramones begann, ahnten meine Eltern nichts davon, dass ich mir Punkrockalben kaufte. Ebenso wenig wussten sie, dass ich in der Schule Essen klaute. Die Lehrer in meiner Junior High School ließen Snacks auf ihren Pulten liegen, und ich hatte solchen Hunger, dass ich mir ihre Müsliriegel oder Chipstüten schnappte, nicht etwa, weil es zu Hause nicht genug zu essen gegeben hätte, das schon, aber ich konnte einfach nicht genug kriegen, egal, was ich mir alles in meine Brotdose oder in den Mund stopfte.

      Ich war elf, als ich allmählich anfing, immer weniger zu wiegen und immer mehr zu essen. Und meine Eltern, Dick und Peggy, mit ihrer liebevollen Art und ihrem unerschütterlichen Optimismus, dachten sich, das sei bestimmt nur ein Wachstumsschub, und munterten mich auf, stolz auf meine Größe zu sein und mich gerade aufzurichten. Als im Jahr darauf meine Handschrift so schlecht wurde, dass meine Noten ins Trudeln gerieten, kaufte mir meine Mutter ein wunderschönes Kalligrafieset in der Hoffnung, mich dadurch zu etwas mehr Ehrgeiz bei meinem Federschwung anzuspornen. Und als ich blass und antriebslos wurde, war meine Mutter der Meinung, ich müsse eben mehr hinaus an die frische Luft von Colorado und ging mit mir zum Skilanglauf. Das war der Tag, als sie merkte, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte, und zwar nichts, was sich mit Disziplin und Optimismus wieder in Ordnung bringen ließ. Auf dem Weg in die Berge schlief ich auf dem Rücksitz unseres Chevy Citation, und die Bewegungen des knüppelgeschalteten Wagens drehten mir den Magen um. Später, als wir uns endlich ausstaffiert hatten und auf die Loipe gingen, kam mir mein Wollpullover so schwer vor wie eine von diesen bleiernen Röntgenschürzen, und meine Beine wollten sich einfach nicht bewegen. Schließlich quengelte ich so lange, bis wir uns auf den Heimweg machten. Außerdem hatte ich den ganzen Proviant bereits vertilgt. Als wir nach Hause kamen, vereinbarte meine Mutter einen Termin beim Arzt.

      Wie sich herausstellte, hatte ich Morbus Basedow. Das ist eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, die im Körper allerlei lustigen Unfug anstellt: beschleunigter Herzschlag, Handzittern, Blässe der Haut, gesteigerter Stoffwechsel, Antriebslosigkeit, Manie, Depression und Hitzeempfindlichkeit. Sie wirkt wie Methamphetamin, nur ohne das gute Gefühl dabei. Ach ja, und sie ist kostenlos.

      Durch die Krankheit hatte sich hinter meinen Augen Fettgewebe angesammelt, sodass sie aus ihren Höhlen nach vorn gedrückt wurden. Meine Augäpfel wölbten sich so weit aus meinem Schädel heraus, dass ich meine Lider nicht mehr schließen konnte. Das Weiße war überall rund um die Iris zu sehen, so als hätte ich gerade einen Stromschlag abbekommen oder etwas Grauenhaftes gesehen … nur dass ich immer so aussah.

      Immer.

      Von zwölf bis sechzehn Jahren. Jeden Tag meines Lebens.

      Meine Mutter fuhr jeden Monat mit mir nach Denver zu irgendwelchen Augenärzten, die darüber wachten, dass meine Hornhäute keinen Schaden nahmen (ich schlief jetzt immer mit einer Augensalbe, damit mir die Augen nicht austrockneten), aber zugleich auch meine Gesichtsknochen vermaßen. Die Sache mit den Glupschaugen ließ sich operativ korrigieren. Aber erst, wenn meine Gesichtsknochen aufgehört hatten zu wachsen. Und wie ich herausfand, kann man seine Gesichtsknochen nicht durch Disziplin oder Optimismus vom Wachsen abhalten.

      Die meisten Jugendlichen in der Junior High School fanden, sie sähen aus wie Insekten. Bei mir stimmte das wirklich. Im Schulbus verbrachte СКАЧАТЬ