Название: Turnvater Jahn
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783955521721
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Nun las der Vater seiner Gemeinde die Leviten, und Friedrich Ludwig Jahn, gerade sieben Jahre alt geworden, hatte seine Freude daran, wie sich die Zuhörer hinter den Rücken ihrer Vordermänner duckten. Dachte er an seine eigenen Sünden, musste er sich eingestehen, dass er einiges auf dem Kerbholz hatte, zusammen mit seinem Freund Philipp. Sie hatten dem Vater den Ärmel seines Hemds zugenäht, so dass er am Morgen mit der Hand steckengeblieben war und gotteslästerlich geflucht hatte. Sie hatten, als sie den Knechten und Mägden auf den Feldern das Mittagessen bringen sollten, unterwegs die Hälfte selbst aufgefuttert. Sie hatten bei ihren Schießübungen mit Pfeil und Bogen dem Nachbarn Galow die Scheibe seiner guten Stube zerschossen. Sie hatten der Mutter die frische Milch weggetrunken und die fehlende Menge durch Brunnenwasser ersetzt, so dass ihr das Buttern völlig misslungen war.
Da jedoch alle Streiche aufgeflogen waren und er ein jedes Mal gehörig Prügel erhalten hatte, wollte Friedrich Ludwig nicht recht einsehen, warum er jetzt noch Buße tun sollte.
Der Vater las nun wieder aus dem Matthäus-Evangelium vor: »Als nun Jesus an dem Galiläischen Meer ging, sah er zwei Brüder, Simon, der da heißt Petrus, und Andreas, seinen Bruder, die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen!«
Menschenfischer – das gefiel ihm, das wollte er später auch einmal werden. So wie Jesus Christus oder Martin Luther oder Friedrich der Große. Dann konnte er sich hinstellen und sagen: »Alles hört auf mein Kommando!« Und die anderen würden ihm folgen und nicht murren oder mit Lehmklumpen werfen.
Jetzt kam das Schönste am sonntäglichen Gottesdienst. Der Vater hob die Arme, um den Segen zu sprechen. Alle waren sie aufgestanden und hörten die Worte, die ihnen so guttaten wie eine Wundermedizin und ihnen die Kraft gaben, bis zum nächsten Sonntag alle Mühen und Leiden dieser Welt geduldig zu ertragen. »Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.«
Bei der Kirche des Dorfes Lanz handelte es sich um einen kleinen, schmucklosen Bau mit dicken Feldsteinmauern und einem hölzernen Turm. Es war märkischer Stil, typisch für die Prignitz. Alexander Friedrich Jahn arbeitete seit 1767 als Pastor in Lanz. Seine Vorfahren waren aus Böhmen ins Land gekommen und hatten als Pfarrer, Rathsherren und Richter im nordwestlichen Teil Brandenburgs gewirkt. Seine Frau Dorothea, eine geborene Schultze, entstammte einer Pfarrersfamilie. 1775 waren sie die Ehe miteinander eingegangen. Zwei Kinder hatte der Herr ihnen geschenkt: am 20. Mai 1776 die Tochter Elisabeth Maria Anna und am 11. August 1778 den Sohn Friedrich Ludwig.
Die herausragendsten Ahnen waren von mehr oder minder begabten Künstlern porträtiert worden und hingen nun in Öl im Flur des Pfarrhauses. Alexander Friedrich Jahn ließ kaum eine Gelegenheit aus, sie seinen Kindern näherzubringen. »Das hier ist Magnus Jahn, Rathsherr zu Havelberg. Der Ort macht als alte Bischofsstadt schon eine Menge her. Das Gemälde muss Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden sein. Daneben haben wir, etwas später, Arnoldus Jahn, Richter in Plattenburg, und Christopherus Jahn, den ersten Prediger in unserer Familie, euren Urgroßvater. Gelebt hat er von 1676 bis 1755. Rechts außen hängt euer Großvater, Christoph Friedrich Jahn, 1713 bis 1763, auch er Pfarrer in der Prignitz, im Dorfe Vehlin.«
Sosehr der junge Friedrich Ludwig auch beeindruckt war, ihm kam doch der Gedanke, dass alle seine Vorfahren recht eigentlich kleine Lichter gewesen waren und nur in gottverlassenen Nestern gesessen hatten. Keiner war nach Potsdam oder gar nach Berlin an den Hof des Königs gerufen worden, geschweige denn nach Wien, wo der Kaiser residierte. Es schmerzte ihn ein wenig, dass es keinem seiner Ahnen gelungen war, sich in der großen weiten Welt einen Namen zu machen.
Der Vater hätte das Zeug dazu gehabt. Er hatte in Halle studiert und in Berlin, in der Nikolaikirche sogar, mit Bravour seine Probepredigt gehalten. Doch dann war er nach Lanz gegangen, froh und glücklich darüber, nun als wohlbestallter lutherischer Prediger eine Familie gründen zu können. Stark war er, außerdem ein hervorragender Kanzelredner und hochgebildet. Tagelang konnte er über theologischen Fragen brüten. Er liebte aber auch das Landleben, baute Hopfen an und züchtete Schafe. Friedrich Ludwig bewunderte ihn, auch wenn er ihn gern als Domprediger oder Bischof gesehen hätte.
Die Mutter, Dorothea Sophia, stammte aus dem nahen Lenzerwische. Sie war derb und bieder, stark im Glauben und streng in ihren Moralvorstellungen. Zeitlebens redete sie ihren Mann mit »Ihr« an, trug Kleider aus selbstgesponnenen Stoffen und lief wie eine Bäuerin durchs Dorf. Friedrich Ludwig litt unter ihrer Härte, nie nahm sie ihn in den Arm. Andererseits verteidigte sie ihn ohne Wenn und Aber, wenn er Streit mit anderen Jungen hatte. Dann konnte sie zur Furie werden. Auch half sie allen, die in Not geraten waren. Und sie hatte ihm früh, schon als er vier Jahre alt gewesen war, das Schreiben und Lesen beigebracht. »Deine Fibel sei die Bibel!«, so ihre Devise. »Fritz, was heißt das hier?«
»Der … der … elfte Salm.«
»Psalm! Mit P, wie beim Pferd. Salm ist ein anderes Wort für Lachs. Lies das, was ich unterstrichen habe!«
»Der Herr … prüft den Ge-rech-ten; seine Seele hasst den Gott-lo-sen und die ger-ne fre-veln.« Mühsam brachte Friedrich Ludwig die Wörter zusammen.
»Nicht so stockend! Weiter!«
»Er wird regnen lassen über die Gottlosen Blitze, Feuer und Schwefel …«
»Das merke dir fürs Leben!«
Er folgte diesem Rat. Und dank der harten Schule seiner Mutter konnte er später immer mit Bibelzitaten glänzen.
Über Lanz war nicht viel zu sagen. Es handelte sich um ein Runddorf, in dem sage und schreibe 335 Einwohner lebten. Bis zur Elbe hatte man rund drei Kilometer zu laufen, bis nach Lenzen, dem nächstgrößten Städtchen im Westen, neun Kilometer. Bis Wittenberge im Südosten war es mehr als doppelt so weit. Die Bauern in der Gegend profitierten vom Hopfenanbau, der ihnen recht viel Geld einbrachte. Als reichster Hopfenbauer galt Germanus Pulvermacher, mit dessen ältestem Sohn Philipp Friedrich Ludwig Jahn eng befreundet war.
Gern liefen sie beide zur Elbe, genauer gesagt, Friedrich Ludwig überredete Philipp dazu, denn schon früh ließ er einen Wandertrieb erkennen, den sein Vater als angeboren zu bezeichnen pflegte. Abenteuerlust und ein Hang zum Träumen kamen hinzu.
»Wenn ich jetzt ein Boot hätte, würde ich damit nach Hamburg fahren«, sagte Friedrich Ludwig Jahn.
»Weißt du, wer in Hamburg König ist?«, fragte Philipp Pulvermacher.
Jahn überlegte. »Mein Vater sagt, da geben die Pfeffersäcke den Ton an.«
»Philipp I. aus dem Hause Pfeffersack. Ich verstehe, was bei uns die Hohenzollern sind, das sind bei denen die Pfeffersäcke.«
»Unsinn!«, kommentierte Jahn.
»Wieso Unsinn? Bei uns in der Prignitz haben wir doch sogar Gänse, die so was wie Fürsten sind.« Er meinte die Familie Gans Edle Herren zu Putlitz, die dem märkischen Uradel angehörte.
Jahn wechselte das Thema und zeigte auf die leere Rotweinflasche, die er von seinem Vater stibitzt hatte. »Darin war der Messwein.«
»Zum Messen nimmt man einen Zollstock und keinen Wein«, stellte СКАЧАТЬ