Название: Thor
Автор: Martin Arnold
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783944180168
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Thor und Loki
Keine Gestalt der altnordischen Mythologie ist schwieriger zu verstehen als Loki. Er wurde verschiedentlich interpretiert als Gott des Feuers oder der Luft, als Trickster-Gott, ähnlich jenen, die wir in den Mythen der Ureinwohner Nordamerikas und Afrikas finden, und sogar als die symbolische Vergöttlichung einer Spinne, wie es der abergläubische Vorstellungen und volkstümliche Redensarten andeuten, die im ländlichen Skandinavien gesammelt wurden.14 Ein zentraler Aspekt des Problems ist bei Loki, dass er keine gleich bleibende Rolle in den Mythen einnimmt. Wie wir an seiner Verbindung zu Thor sehen können, verändert sich Loki über die Zeit hinweg von einem Gott, der Probleme schafft und diese dann – manchmal mit unvorhergesehener Hilfe – erfindungsreich wieder löst, bis zu jenem, der offen und unversöhnlich auf den Niedergang Asgards und all dessen, was damit verbunden wird, hinwirkt. In dieser Wandlung vom Mutwillen zur Böswilligkeit, der gewissermaßen den allmählichen Verfall der Welt widerspiegelt, tritt sein Gegensatz zu Thor noch deutlicher hervor. Es scheint, als gebärde sich Loki zunehmend im Sinne seiner väterlichen und mütterlichen Herkunft: folglich als Riese und deswegen als Stellvertreter des Chaos und des Todes.
Als der Riese im eigenen, inneren Bereich veranschaulicht Lokis Niedertracht und destruktive Intelligenz die Verletzbarkeit der Götter. Wie sehr Thor in seinem unablässigen Kampf gegen die Unholde die Grenzen auch zu schützen sucht, so kann er doch nichts gegen das Krebsgeschwür im Herzen Asgards bewirken. Loki ist alles, was Thor nicht ist. Während dieser die personifizierte Männlichkeit darstellt, ist jener ein sexueller Grenzüberschreiter – ein Unterschied, der, nebenbei bemerkt, noch zu der Komik von Thors Crossdressing in der ‚Þrymskviða’ beiträgt. Ähnlich verhält es sich mit der Klarheit von Thors Absichten, wohingegen Loki größtenteils undurchsichtig bleibt; und während Thor beständig und eindeutig auf der Seite der Kultur steht, ist Loki nach seinem Stellvertretermord an Baldur in vollem Umfang als Erfüllungsgehilfe der destruktiven Natur erkennbar. Mit Blick auf die psychische Dynamik des Mythos scheint es verlockend, den einen als das alter ego des anderen zu betrachten, wobei ihre Paarbildung die fundamentale Zweiheit lebensbejahender und lebensverneinender Prinzipien verkörpert.
Thor und Odin
Ein grundlegender Unterschied zwischen Odin und Thor wird im ‚Hárbarðsljóð’ (Harbardslied) aufgezeigt und durch eine Beleidigung ausgedrückt, die Odin, der sich als der Fährmann Harbard verkleidet hat, gegen Thor richtet:
Das Knechtsvolk hat Thor,
doch die Könige hat Odin,
die da fallen im Feld.15
Hieraus können wir folgern, dass Odin der Gott der höheren Stände und der gesellschaftlichen Eliten ist, Thor hingegen der Gott der ‚kleinen Leute’: der Bauern, Fischer und einfachen Krieger. Angesichts dessen, dass Thor unstrittig der am meisten verehrte Gott der späten heidnischen Zeit war, kommt der Beleidigung keinerlei Gewicht zu, was die jeweilige Popularität der beiden Götter betrifft; eher wird mir ihr beabsichtigt, die Aufmerksamkeit auf Thors untergeordnete Position gegenüber Odin in der sozialen Hierarchie zu lenken. Der Verwandtschaftsstatus der Götter ist außerordentlich wichtig, um ihre besonderen Funktionen, und damit auch ihr Bedeutungsspektrum, identifizieren zu können. Dies ist definitiv nicht nur für die altnordische Mythologie charakteristisch, sondern wird für die Ursprünge des gesamten mythologischen Systems in Betracht gezogen, zumindest in historischer und geographischer Hinsicht.
THORS PLATZ IN DEN ALTNORDISCHEN MYTHEN
Der Ursprung der altnordischen Mythen
Seit den letzten Dekaden des achtzehnten Jahrhunderts galt die gesteigerte Aufmerksamkeit der Mythenforscher den auffallenden Parallelen zwischen der griechisch-römischen, keltischen, indischen, iranischen, slawischen und der altnordischen Mythologie. Es hat mehrere solcher Phasen gegeben, von denen viele noch in den späteren Kapiteln, welche die nachmittelalterliche Auffassung von Thor behandeln, zur Sprache kommen werden. Zusammengefasst, entdeckten die Wissenschaftler zunächst die übergreifende etymologische Verwandtschaft zwischen einzelnen Worten bestimmter Sprachen, die daraufhin als die indoeuropäische Sprachfamilie bezeichnet wurden. Daraus hat sich dann die Disziplin der vergleichenden Sprachwissenschaft entwickelt, für die das Studium der Mythen ein zentrales Forschungsgebiet war. Auf vielen Feldern der Volkskunde, Archäologie und Anthropologie war man bestrebt, die Einheit der indoeuropäischen Sprachgruppen nachzuweisen, und es wurde die Hypothese aufgestellt, dass einst eine urindoeuropäische Sprache existiert habe, die von einer Gruppe von Europäern gesprochen wurde, die sich durch Migration in der frühen Bronzezeit weit nach Osten und Süden ausgebreitet hat. In der späten Bronzezeit gelangten dann Völker des Mittelmeerraumes über Persien bis zum indischen Subkontinent unter ihren Einfluss, sowohl im Hinblick auf die Sprache als auch was die Glaubensvorstellungen betrifft.
Wer genau diese Ur-Indoeuropäer waren, bleibt Gegenstand vieler Diskussionen. Eine interessante, wenn auch viel kritisierte Theorie ist die von der Archäologin Marija Gimbutas (1921 - 1994) aufgestellte Theorie, die als Kurgan-Hypothese bekannt wurde. Diese richtet das Hauptaugenmerk auf die Grabhügel oder Kurgane der frühen Völker Osteuropas bzw. auf die Verbreitung dieser Grabhügel quer über den indoeuropäischen Raum. Die Volksstämme, die diese Kurgane ursprünglich schufen, galten als technologisch fortgeschritten und hatten außergewöhnliche Techniken der Waffenschmiedekunst entwickelt. Außerdem haben sie durch die Zähmung von Pferden und deren Einsatz für kriegerische Aufgaben – etwa zum Ziehen von Streitwagen – einen unerreichbaren Vorsprung gegenüber ihren Nachbarstämmen eingenommen und damit auch die Möglichkeit zur Ausweitung und Verlagerung ihrer Herrschaft, wohin immer sie wollten, erhalten. Am Rande ihrer vergleichenden Untersuchungen der Mythen und Sprachen kam Gimbutas zu der Schlussfolgerung, dass die Migranten der Bronzezeit ihre Urheimat in den Regionen um das Schwarze Meer, den Kaukasus und das westliche Uralgebirge hatten.16
Gimbutas’ Theorie sowie neuere genetische Studien haben die heute diskreditierte ‚arische’ Theorie verdrängt, welche die Idee postulierte, die Ur-Indoeuropäer seien ein germanisches Volk gewesen. Diese Theorie fand in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts weite Verbreitung unter den Verfechtern einer Vorherrschaft der weißen Rasse, besonders unter den Ideologen des Nationalsozialismus; das gleiche gilt für die damit verwandte, aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert stammende Auffassung, dass ein völliges Verstehen urindoeuropäischen Gedankengutes den Schlüssel zu allen Mythologien und damit auch die Antworten auf die komplexesten metaphysischen Fragen bereit hielte. In Wahrheit wird die tatsächliche Identität der Ur-Indoeuropäer wohl nie ganz ergründet werden, abgesehen von der Tatsache, dass die Belege für eine ursprünglich gemeinsame rassische, ebenso wie für eine sprachliche und – wie wir es heute nennen würden – ideologische Identität unter Indoeuropäern mittlerweile weitgehend anerkannt sind.
Das überzeugendste und zweifellos einflussreichste Argument für gemeinsame Ursprünge der Indoeuropäer folgt aus einer Analyse der verschiedenen mythologischen Systeme in Bezug auf ihre Struktur. Der Hauptverfechter dieser Herangehensweise war der französische Philologe Georges Dumézil (1898 - 1986). In seiner Trifunktionalen Hypothese vertritt Dumézil die Auffassung, dass die Götter z. B. der indisch-vedischen, griechischen, römischen und altnordischen Mythologien drei miteinander korrespondierende Rollen oder Funktionen СКАЧАТЬ