Название: Die Geschichte der Zukunft
Автор: Erik Händeler
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783865064356
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Deswegen denkt Bismarck ab 1880 über einen Staatsstreich nach, weil man, so meint er, mit einem Reichstag nicht regieren könne, der aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgegangen ist. Entweder die Einzelstaaten rufen ihre Vertreter aus dem Bundesrat zurück, einigen sich auf eine gleich lautende Landesgesetzgebung und überlassen der Reichsverwaltung Außenpolitik, Militär und Zölle. Oder die Fürsten kündigen das Reich von 1871 und gründen ein neues Deutsches Reich mit einem Reichstag, der nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht gewählt wird: Also nicht jede Stallmagd oder jeder Arbeiter hat mit seinem Wahlzettel ein ebenso großes Gewicht wie Thyssen oder Krupp, sondern es gibt drei Vermögensklassen, die gleichviel zu bestimmen haben: Die oberen paar Tausend so viel wie Millionen einfache Arbeiter. Bismarck scheitert mit seinen Plänen an der Außenpolitik, die ab 1885 einen Staatsstreich nicht zulässt.
Nichts hat also geholfen, die »große Depression« zu überwinden: weder die Schutzzölle, mit denen sich Deutschland vom Weltmarkt abschottet, noch Kolonien, die Sozialversicherung oder die Verfolgung von Sozialdemokraten und Katholiken. Selbst der angedachte Staatsstreich bringt keinen finanziellen Spielraum. Die Depression dauert bis in die 1890er. Als sich die Wirtschaft wieder erholt, stabilisiert sie sich nicht wegen der staatlichen Interventionen, sondern »weil die Unternehmer wieder Mut hatten, zu gründen und zu investieren«, so die vorherrschende Meinung.48 Doch niemand wird aus heiterem Himmel unternehmerisch tätig oder weil er eine Positiv-denken-Pille geschluckt hat. Die Kondratiefftheorie erklärt, warum es sich wieder lohnt, zu investieren: Neue Techniken und Kompetenzen machen die Fabriken wieder produktiver.
3. Kondratieffaufschwung Die unsichtbare Energie
Dampfmaschinen können sich nur kapitalkräftige Unternehmer leisten – für den normalen Handwerker sind sie ein unerreichbares Ziel. Und sie sind aufwändig: Eine Dampfmaschine benötigt Arbeiter, die Kohle heranschaufeln. Sie verbreitet Hitze, belastet das Gehör und ist unflexibel: Denn sie lässt sich nicht einfach an- und ausknipsen. Sie rotiert ununterbrochen, unabhängig davon, ob und wie viele Maschinen über Riemen an die Transmissionsstange gekoppelt sind. Die teure Energie verpufft dann ungenutzt. Und wenn die Dampfmaschine kaputt ist, steht die ganze Fabrik still.
Grundlegende Erfindungen stellen die ganze Gesellschaft auf den Kopf
Diese Wachstumsgrenze überwindet der dritte Kondratieff mit mobiler Energie. Elektrischer Strom – das ist Kraft für Maschinen, Licht für Städte, Kommunikation, ein Katalysator für chemische Prozesse, Wärme für den Haushalt oder Hitze für den Hochofen. Elektrischer Strom revolutioniert die Mechanik. Er verändert die Arbeitsorganisation, die Betriebsgröße und den Bau von Maschinen. Tragbare Bohrer oder fahrbare Presslufthämmer (zum Kohlehauen unter Tage) lassen sich überall nutzen, wo ein Kabel hinführt oder eine ausreichend große Batterie mitgebracht wird. Stromkabel lassen sich überallhin verlegen und machen Firmen ortsunabhängig von Kohlevorkommen. Fabriken werden mit elektrischem Licht heller, der Unterschied zwischen Tag und Nacht verschwimmt. Die Kapazität einer elektrifizierten Produktionsanlage ist größer als die der Dampfgetriebenen, die Qualität steigt. Energie wird dosier- und wandelbar. Hitzeenergie lässt sich über den elektrischen Strom in kinetische Energie umsetzen (zum Beispiel: Strom aus einem Kohlekraftwerk zieht einen Fahrstuhl nach oben) und umgekehrt (Strom aus einem Wasserkraftwerk heizt einen elektrischen Stahl-Hochofen). Wo sich Wasserkraft zum Beispiel wie bei den Niagarafällen in den USA nutzen lässt, entsteht elektrische Energie praktisch kostenlos.
Das alles braucht wie bei jedem neuen Strukturzyklus wieder gesellschaftliche Debatten über neue Gesetze und technisch abgestimmte Normen. Denn die Gesellschaft ist sich doch noch gar nicht darüber einig, wohin die Reise gehen wird: Als Edward Belamy 1888 sein Buch »Utopia: Looking Backward« ein paar Millionen Mal verkauft, prognostiziert er, bis zum Jahr 2000 werde der elektrische Strom alle Lichtquellen und Herdplatten befeuern. Das gilt als mutige Aussage, obwohl es in Wirklichkeit viel schneller so kommt. Die meisten Zukunftspropheten machen zu ihrer Zeit den Fehler, nur die gegenwärtige Entwicklung hochzurechnen, anstatt sich vorzustellen, wie stark sie sich beschleunigt.
Verständlich, wenn man sich überlegt, vor welchen ungeheuerlichen Investitionen eine Gesellschaft zu Beginn des neuen Strukturzyklus steht: Kohlekraftwerke erzeugen elektrischen Strom außerhalb der Fabrikhalle oder sogar draußen vor der Stadt. Kabel leiten elektrische Energie direkt an den Verbrauchsort. Dort verwandeln Elektromotoren den Strom sauber und geräuschärmer als die bisherigen Dampfungetüme in mechanische Bewegungsenergie, stanzen Bleche, lassen Spindeln rotieren, bohren Schraubengewinde. Elektrische Maschinen werden zu einem neuen Wirtschaftszweig. Glühlampen erhellen die Innenstädte, Theater und bald auch Wohnungen ungefährlicher als Gas- und Petroleumlampen. Die gewaltig gesteigerte Produktivität vernichtet keine Arbeitsplätze (wie Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Gruppen in den 1970ern/80ern gegen Computer und Roboter eingewandt haben), sondern sie schafft einen schier unendlichen neuen Arbeitsbedarf: Kupfer muss in Bergwerken gefördert, Kabel, Masten und Dynamos müssen gefertigt und verlegt werden, um Strom und um Nachrichten zu übertragen. Technische Hochschulen bilden Ingenieure aus.
Eine neue Elektroindustrie stellt Produkte her, von denen man vorher noch nicht einmal geträumt hat. Strom ermöglicht Gespräche über das Telefon. 1890 sind 228.000 Telefone in den USA in Gebrauch, um 1900 sind es bereits fast anderthalb Millionen. In den Großbetrieben mit Zehntausenden von Arbeitern und verstreuten Dienststellen spart das viel Zeit. Auch die elektrische Schreibmaschine erleichtert die Büroarbeit. Vor allem löst der elektrische Strom das größte Problem der rapide gewachsenen Großstädte: Überall fahren jetzt elektrische Straßenbahnen, zum Teil schon unterirdisch wie in London ab 1887. In Deutschland verbreiten sich die elektrischen Straßenbahnen ganz besonders schnell: 1891 haben erst zwei Städte welche, im Jahr 1900 sind bereits 99 Straßenbahnen fertiggestellt, 28 weitere in Bau. Ebenso rapide entwickelt sich der dritte Kondratieff in den USA: 1890 haben erst 15 Prozent der amerikanischen Städte elektrisch angetriebene Trambahnen, 1904 sind es 94 Prozent.49 Damit beginnt, was das Auto später perfektioniert: Das Leben der Arbeiter und Angestellten verlagert sich aus der Nachbarschaft der Fabriken raus an den Stadtrand und in die Vororte.
Die Elektrifizierung versetzt die chemische Industrie in die Lage (zum Beispiel durch Elektrolyse oder celsiusgradgenaue Temperatureinstellung), chemische Stoffe aller Art in Masse zu produzieren. Das eröffnet unendlich viele Möglichkeiten, sie neu zu kombinieren und zu Produkten zu verarbeiten: neue Werkstoffe und Legierungen, Schwefelsäure, Farbstoffe. Glas, Papier, Zement, Gummi und Keramik werden Teil der chemischen Industrie. Auch Aluminium hängt von der elektrischen Industrie ab, ebenso das Herstellen von Chlor. Was elektrischer Strom in der Chemie möglich macht, wirkt auf die Elektrobranche zurück: Erst mit Hilfe der Elektrolyse lässt sich Kupfer in großen Mengen herstellen. Nie zuvor haben Wissenschaft und Produktion so eng zusammengearbeitet – zum ersten Mal geht es in einem Kondratieff um die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse, besonders um das Wissen über den Aufbau der Materie.50
Durch den elektrischen Strom beginnt erst jetzt so richtig das Zeitalter des Stahls, auch wenn schon vorher bessere Herstellungsverfahren die Grundkosten des Rohstahls senken (Bessemer-Verfahren 1856, Siemens-Martin-Verfahren 1864, Thomas-Verfahren 1879). Im selben Jahr stellt Siemens den ersten elektrischen Hochofen vor. Am Ende des Kondratieffs erzeugen sie Temperaturen, die für konventionelle Brennstoffe unerreichbar sind. Der Preis etwa für Stahlschienen sinkt in den USA von 107 Dollar pro Tonne im Jahr 1870 auf 18 Dollar 1898.51 Mit den höheren Temperaturen steigt auch die Qualität. Stahl wird auf unendlich viele Arten neu einsetzbar. Das löst eine Welle von Anwendungen im Gebäude- und Schiffsbau und erneut bei der Eisenbahn aus. Die Eisenbahn ist aber nicht mehr Wachstumsmotor, sondern hat im Staffellauf der Wachstumsmärkte den Stab an den elektrischen Strom abgegeben. Weil der den Wohlstand hebt, gibt es mehr zu transportieren. In dem Jahrzehnt bis 1905 kommen in Deutschland noch einmal 10420 Schienenkilometer dazu, danach bricht dieser Sektor mit nur noch 5430 zusätzlichen Kilometern schon vor dem Ersten Weltkrieg am deutlichsten ein und zeigt, dass die Wirtschaft auch ohne Krieg in den СКАЧАТЬ