Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler
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Название: Die Geschichte der Zukunft

Автор: Erik Händeler

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежная деловая литература

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isbn: 9783865064356

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СКАЧАТЬ Länder, sogar das bisher führende Britannien, werden ihre Güter nicht mehr los.

      Erst Anfang der 1890er Jahre senkt der nächste Reichskanzler Leo von Caprivi die Schutzzölle allmählich wieder – also rechtzeitig zum dritten Kondratieffaufschwung.

       Vom Überlebensrecht des Stärkeren

      Aber wie sollen Politiker auch sonst auf eine große Wirtschaftskrise reagieren als zum Nachteil anderer Länder? Seit Dampfmaschinen Druckerpressen antreiben, müssen sich jetzt auch Politiker dem öffentlichen Druck beugen. Der Zeitgeist ist erfüllt von Charles Darwins Werk »Über die Entstehung der Arten«, mit dem heute nicht mehr so bekannten Untertitel: »Das Überleben der bevorzugten Rassen im Kampf ums Dasein«. Viele Nationalisten folgern höchst unwissenschaftlich daraus: Gerade ihr Volk sei die »bevorzugte Rasse«, die sich im »Kampf ums Dasein« zwischen den Völkern durchsetzen müsse. Das »survival of the fittest« denkt ein »non-survival of the less fittest« immer unausgesprochen hinzu. Intellektuelle, Tagespolitiker, aber vor allem Journalisten sprechen und schreiben vulgär sozialdarwinistisch von einer Welt des Kampfes, des Erfolges und des Versagens, des Wachstums und des Niedergangs.

      Seltsam erscheint auf den ersten Blick, dass sich diese darwinistische Ideologie nicht in Kriegen entlädt. Das außenpolitische System bleibt in den Jahren des langen Kondratieffabschwungs stabil. Das hat nicht nur mit Bismarcks Politik zu tun, die dem Ausland signalisiert, Deutschland sei saturiert. Es gibt weiterhin Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich, wie die »Krieg-in-Sicht-Krise« 1875, oder Kolonialkonflikte zwischen England und Frankreich. Aber sie entladen sich nicht in heißen Kriegen, so die Theorie von Kondratieff45, weil allen die Ressourcen fehlen, einen Krieg zu führen.

      Sie kämpfen, indem sie sich alle gegenseitig unterbieten: Nachdem jede Nation ihr Heil in der Massenproduktion sucht, entsteht ein gewaltiger Verdrängungswettbewerb zwischen den Nationen um Märkte. Sie denken, diese seien begrenzt und könnten nur eine bestimmte Menge aufnehmen. Anstatt mit innovativen Produkten den Markt qualitativ zu erweitern, kämpfen sie im vorhandenen Markt der eingeführten Produkte um Mengenanteile. Den Verantwortlichen erscheint es, als könne die eigene Volkswirtschaft nur weiterexistieren, wenn sie diese Absatzmärkte selbst schaffen – in Kolonien.

      Dabei haben englische Politiker im zweiten Kondratieffaufschwung noch darüber diskutiert, die bestehenden Kolonien zu unabhängigen, gleichwertigen Handelspartnern reifen zu lassen. Denn der Handel mit den unabhängig gewordenen USA bringt schon lange mehr Profit, als Amerika als Kolonie den Briten je erwirtschaftet hat. Englands Premierminister Disraeli nennt Englands »elende« Kolonien »Mühlsteine an unseren Hälsen«. Eine Unterhausdelegation empfiehlt eine Politik, die »bei den Eingeborenen die Eigenschaften aktiviert, die es uns ermöglichen – im Hinblick auf unseren späteren Abzug aus ihrem Gebiet –, nach und nach ihnen selbst alle Verwaltungsgeschäfte zu übertragen«46. Davon ist jetzt im langen Abschwung keine Rede mehr. England hat schon die meisten Kolonien, aber eignet sich im Wettlauf der 1870er/​80er noch mehr als alle anderen Staaten an.

      Denn die englischen Eliten denken nun, sie bräuchten sie, um ihre Überproduktion aufzunehmen. Diese kann im eigenen Land nicht mehr ganz verkauft werden und ist in anderen inzwischen industrialisierten Ländern immer weniger konkurrenzfähig. Das Konzept funktioniert aber nicht – es nimmt nur kurz den Druck von der britischen Industrie. Langfristig geht dabei die Wettbewerbsfähigkeit Englands endgültig verloren. Denn Konkurrenten wie das Deutsche Reich können ihre Massenproduktion mangels ähnlich ausgedehnten Kolonialreichs nicht so bequem absetzen. Deren Unternehmer sind eher gezwungen, effizienter zu werden und Innovationen zu suchen – was Deutschland weiter stärkt.

      Doch die öffentliche Meinung ist irrational. Die Verzweiflung des Darwinismus, der Schwächere werde untergehen, entfacht unter den Europäern eine Gier nach den letzten weißen Flecken der Weltkarte in Afrika, Asien, Ozeanien. Wie sizilianische Mafiosi pressen sie China Sonderrechte, Schutzgebiete und Pachtverträge ab. Irgendwelche unbedeutenden öden Atolle, von den Europäern bisher ignoriert und für wirtschaftlich völlig uninteressant gehalten, werden zu heiß begehrten Zielen für in den Strand gesteckte Fahnenstangen. Deutschland rafft ohne strategischen Sinn und Verstand ein Sammelsurium pazifischer Inselchen an sich – es glaubt allen Ernstes, es gehe hier um die Wachstumsmärkte der Zukunft.

      Dahinter stecken die innenpolitischen Folgen des Kondratieffabschwungs mit fallenden Unternehmensgewinnen, Verteilungskämpfen und Stagnation. Zwar können die Unternehmer den wirtschaftlichen Druck an die Arbeiter weitergeben, indem sie den Reallohn mit der Zeit absenken. Aber, so die Angst der Wohlhabenden, die ärmlichen Lebensverhältnisse der Unterschicht könnten ihnen gefährlich werden, wenn sozialistische oder gar marxistische Vorstellungswelten daran eine Revolution entzünden. Diese appellieren an das Bedürfnis des Einzelnen, seine Situation zu verbessern. Dazu muss er auf der Verstandesebene zu der Überzeugung kommen (oder von außen überzeugt werden), dass er sich mit anderen, die in derselben Situation sind, zusammentun, eine Gruppenidentität ausprägen und die gemeinsamen Interessen durchsetzen muss.

      Mit Nächstenliebe hat der Kampf gegen die Kapitalisten ebenso wenig zu tun wie der psychologische Impfstoff, mit dem die Reichen das Proletariat gegen diese »linken Irrlehren« immunisieren wollen: Sie sprechen den Einzelnen über seine nationale oder rassische Gruppenidentität an, begeistern ihn für patriotische, imperialistische oder sozialdarwinistische Denksysteme. Die selbst erlebte Ungerechtigkeit seiner Lebenssituation wird von oben ausgeglichen, indem ein kollektivpsychologisches, pseudoreligiöses Bedürfnis befriedigt wird: Was sind wir doch für eine große und vor allem wichtige Nation, höherwertiger und haushoch dem Rest der Welt überlegen, wo uns doch überall auf der Welt Länder gehören und wir so eine starke Flotte haben. Über so viel Größenwahn kann man dann sein eigenes Los vergessen, die eigene Schufterei bekommt endlich einen übergeordneten Sinn. Führende Politiker polieren mit neuen Kolonien ihr Ansehen wieder auf, nachdem sie es mit Steuererhöhungen und niedergeschlagenen Streiks ramponiert haben. Kolonien dienen vor allem dazu, dass die innenpolitische Stimmung Dampf ablassen kann – auf Kosten der Menschen in den heutigen Entwicklungsländern.

      Selbst der sich sträubende Bismarck hat gegen die öffentlich aufgeheizte Stimmung keine Chance, diesen Unsinn zu verhindern: In den Krisenjahren Anfang der 1880er kaufen sich deutsche Geschäftsleute auf eigene Faust ein paar Wüstenstreifen zusammen und zwingen nach ihrer Pleite das Deutsche Reich, sie als »Kolonien« zu übernehmen. Das kostet den Staat viel Geld und bringt keines ein. Selbst später im Aufschwung des dritten Kondratieffs nach 1890/​95 erfüllen die Kolonien keinen ökonomischen Zweck: Im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg leben in allen deutschen Kolonien zusammen – immerhin eine Million Quadratmeilen – nur etwas über 28.000 Weiße (also nicht nur Deutsche). Das ist nichts im Vergleich zu den Millionen, die aus Armut in die USA ausgewandert sind – Nationalisten hatten ja gerade deshalb Kolonien gefordert, damit deutsches Blut nicht mehr in fremden Kulturen aufgehe.

      Auch der Handel mit den Kolonien ist verschwindend gering: Während das Deutsche Reich 1913 Waren für 10.039 Millionen Mark in alle Welt exportiert, kaufen die eigenen Kolonien dem Mutterland nur Waren für 57 Millionen Mark ab. Denn das, was der dritte Kondratieff braucht – Kohle, Erz, Fabrikarbeiter –, findet sich nicht im Pazifik oder in Kamerun, sondern in Deutschland. Die Kolonien erfüllen СКАЧАТЬ