Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler
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Название: Die Geschichte der Zukunft

Автор: Erik Händeler

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежная деловая литература

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isbn: 9783865064356

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СКАЧАТЬ erklärt, warum lange Zyklen 40 bis 60 Jahre dauern, und sie erklärt den wirtschaftlichen Schwung dieser Jahrzehnte, der zuerst stotternd, dann mit Wucht die Konjunktur treibt und schließlich unvermittelt in langen Stagnationsjahren stehen bleibt: Der fallende Grenznutzen, also der sinkende Nutzen einer weiteren Investition, läutet den Kondratieffabschwung ein. Das heißt, ein zusätzlicher, neu gebauter Eisenbahnkilometer ist nicht mehr so rentabel wie bisher. Als man die großen Städte verbindet, bedeutet das einen großen Nutzen. Als man später von Kleinstädten noch Stichbahnen in die umliegenden Dörfer baut, nutzt das gerade den paar Bewohnern, deren Kapital in der Regel so gering ist, dass die Strecke schon sehr lange braucht, bis sie die Investitionskosten wieder eingefahren hat. Spekulative, aber unrentable Linien brechen zusammen.

      2. Kondratieffabschwung Die große Depression

      Kein Wunder: Sobald ein halbwegs geschlossenes Eisenbahnnetz steht, konkurrieren Waren über eine Entfernung von Tausenden von Kilometern miteinander. Vor 1870 sind die wenigsten Bauern und Landwirte dem Wettbewerb ausgesetzt. Wer etwas mit großem Gewicht, aber relativ geringem Wert erzeugt – ein paar Tonnen Weizen –, dessen regionales Geschäft ist sicher, weil einem der Preis im Nachbarland egal sein kann, solange der Transport dorthin weit teurer ist als der Preisunterschied. Ab etwa 1870 spannt sich das Eisenbahnnetz weltweit um die Märkte: Der mittlere Westen und die Prärien der USA sind angeschlossen, bald auch die Kornkammer Ukraine, Argentinien, Australien und Kanada. Dampfschiffe können nun nennenswerte Lademengen mitnehmen. 1869 wird der Suez-Kanal eröffnet, was den Seeweg zwischen Europa und Indien/​Asien dramatisch verkürzt.

      Je mehr Anbieter durch die neuen Transportmittel beim Kunden mitbieten, umso intensiver wird der Wettbewerb, umso stärker werden die Gewinnspannen gegenseitig unterboten. Wieder (wie 1929 oder wie heute) suchen Unternehmen ihr Heil in der Überproduktion, um durch noch größeren Mengenausstoß die Kosten pro Stück weiter zu drücken und zu hoffen, dass sie dann gekauft werden. Es ist eine Krise der Ertragskraft. Während auch alle anderen Länder zu kämpfen haben, wächst England noch langsamer als der Rest. Sein Anteil an der Weltindustrieproduktion sinkt von 22,6 Prozent im Jahr 1880 auf 18,5 Prozent zur Jahrhundertwende.

      Erst in der zweiten Hälfte der 1890er wird England wieder wertmäßig so viel exportieren wie in den 1870ern. Selbst die USA erleben trotz Wirtschaftswachstums zum ersten Mal ernsthaft Arbeitslosigkeit und eine Krise, welche die ganze Gesellschaft erfasst. Zeitgenossen nennen die 1880er die »große Depression«.

      Auch in Deutschland erscheinen die Abschwungjahre 1873 bis 1896 vielen Zeitgenossen als eine erschreckende Abweichung von den historischen Erfahrungen. Die Preise sinken im Durchschnitt um 30 Prozent bei allen Waren. Seit Menschengedenken hat es eine solch drastische Deflation nicht gegeben. Auch der Zinssatz fällt so stark, dass die Wirtschaftstheoretiker an die Möglichkeit zu glauben beginnen, das im Überfluss vorhandene Kapital könne sich zu einem frei verfügbaren und kostenlosen Gut entwickeln. Die Profite schrumpfen zusammen. Für die damals Lebenden scheint sich die Depression unendlich lange fortzusetzen. Sie haben den Eindruck, das Wirtschaftssystem sei erschöpft.44

      Das hat nichts mit Psychologie zu tun. Politiker irren, wenn sie meinen, sie könnten heute mit Psycho-Tricks und positivem Denken einen Aufschwung herbeireden. Ebenso halbwahr meint der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard in den 1950er Jahren, Wirtschaft sei zur Hälfte Psychologie. Natürlich hängt es von der Stimmung der Menschen ab, ob sie ihr Geld ausgeben oder im Sparstrumpf behalten. Aber Stimmung ist kein Hirngespinst, keine Einbildung, sie ist langfristig nicht mach- oder manipulierbar. Die Stimmung hängt von den realen Produktivitätssteigerungen ab, welche die Menschen hautnah spüren: Wenn sie für denselben Output weniger arbeiten müssen, für denselben Preis plötzlich viel bessere Waren einkaufen, oder umgekehrt, wenn sie für denselben Lebensstandard immer härter arbeiten müssen oder ihre Firma in Konkurs geht.

      Die Gewinne der Unternehmen schmelzen so dahin, dass die kleinen Betriebe, welche die Industrialisierung getragen haben, die Krise nicht überleben – entweder, weil sie vom Markt verschwinden oder weil sie durch den ökonomischen Druck massiv wachsen: Bald zählen die Arbeiter bei Vickers in Barrow, Armstrong in Newcastle oder Krupp in Essen nach Zehntausenden. Es entstehen zwar wenige, dafür aber in jeder Branche immer größere Firmen, die untereinander die Preise absprechen und machtvoll Druck auf die Politik ausüben. Aber die Kartelle lösen gesamtwirtschaftlich keine Probleme, sie zementieren nur die schwache Konjunktur. Denn die Heimatmärkte stagnieren ja deswegen, weil es an Produktinnovationen und besseren Verfahren fehlt – Preisabsprachen verringern noch keine Herstellungskosten.

      Das andere Überlebensrezept der Unternehmer im langen Abschwung ist die Flucht in noch größeren Massenausstoß, um die Stückpreise zu verringern. Doch der heimische Markt kann die vielen Güter gar nicht mehr aufnehmen. Das verändert die Politik: Während die Länder im Kondratieffaufschwung um Ressourcen konkurrieren, konkurrieren sie im Abschwung um Absatzmärkte. Deswegen kommen die Politiker nach 1873 unter Druck, Zölle und Handelsschranken zu errichten, damit ausländische Firmen den eigenen im Inland kein Geschäft mehr wegnehmen. Konservative Meinungsmacher, sonst fest hinter dem deutschen Reichskanzler Bismarck stehend, wettern gegen seine Freihandelspolitik, gegen den »angelsächsischen« Pragmatismus im Denken der deutschen Unternehmer und gegen den »Abfall vom Christenthum und den Rückfall in ein neues Heidenthum« (wie konfus die Vorstellung davon auch immer sein mag). Je länger die Krise dauert, umso mehr verlieren die Anhänger des Freihandels gegen die wachsenden Interessengruppen an Boden, die den Wirtschaftsraum Deutschland gegen Waren aus dem Ausland mit hohen Zöllen abschotten wollen.

      Zuerst schließen sich die Stahlkocher zusammen, dann die Textilhersteller. 1876 gründet sich mit dem Zentralverband Deutscher Industrieller ein Vorläufer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Bei ihrer ersten Generalversammlung 1877 reisen 500 Unternehmer aus ganz Deutschland an, um Schutzzölle zu fordern. Auch die Landwirte und Gutsbesitzer marschieren gegen den Freihandel, um sich gegen die billigere ausländische Konkurrenz auf dem deutschen Markt zu wehren. Denn die Preise für Vieh und Getreide sind so stark eingebrochen, dass ihnen die mager entlohnten Landarbeiter davonlaufen und der durchschnittliche Hektarertrag sinkt.

      Die Liberalen, vor 1848 noch eine Gefahr für das monarchistische Establishment, danach die führende politische Kraft in Deutschland, reiben sich angesichts ihrer Entmachtung ungläubig die Augen: nicht nur, dass sich ihre politischen Ziele nicht mehr durchsetzen lassen – wie freier Handel und eine billige, weil inaktive Regierung. Die Wahlen zum Reichstag zerstören ihre Illusion, ihre politischen Vorstellungen würden die Bevölkerungsmehrheit repräsentieren. Erstmals in Deutschland gilt jede (männliche) Stimme gleich viel (im Gegensatz zum preußischen Dreiklassenwahlrecht, wo die Wahlstimme nach Steuerkraft zählt). Damit erringen die Liberalen keine Mehrheiten.

      Es macht keinen Spaß, in einem langen Kondratieffabschwung Politiker zu sein: Produktionsrückgang, Massenentlassungen, Lohnkürzungen oder der Streit gegen die liberale Wirtschaftsordnung СКАЧАТЬ