Название: Die Geschichte der Zukunft
Автор: Erik Händeler
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783865064356
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Die sozialen Erscheinungsweisen des Kondratieffabschwungs sind sehr gut in den Kinderbüchern von Erich Kästner nachzulesen: Die Krise verstärkt die Straßenkriminalität, Alleinerziehende überleben sehr mühsam (»Emil und die Detektive«), Ehescheidung, verdeckte Arbeitslosigkeit und von außen erzwungene berufliche Belastung zerstören Familien (»Das doppelte Lottchen«), die unteren Schichten sind von der Krise stärker betroffen, die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander, und gerade Kinder müssen früh in die Lücken springen, weil Eltern aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Leben nicht mehr fertig werden und Krankheit in den wirtschaftlichen Ruin führt (»Pünktchen und Anton«). Wir werden diese Bücher jetzt wieder brauchen. Weil sie Kinder ermutigen, nicht zu resignieren, sondern sich untereinander und den Erwachsenen zu helfen. Außerdem beschreiben sie eine lang andauernde Strukturkrise ebenso real wie akademische Geschichtsbücher.
Nachkriegs-Rezession oder Kondratieffabschwung?
Zum einen – ja: Der Krieg schwächt die europäischen Länder. 1919 müssen in Deutschland sechs Millionen Soldaten wieder ins Arbeitsleben integriert werden. Die Landwirtschaft erntet nur zwei Drittel der Vorkriegsmenge und die Industrie erzeugt 38 Prozent von 1913. Der Versailler »Vertrag« nimmt den Deutschen einige Grundlagen ihres Wohlstands: Sie müssen alle Handelsschiffe über 1600 Bruttoregistertonnen abliefern, dazu 5000 Lokomotiven und 150.000 Waggons. Patente und Lizenzen, die vor 1914 die deutsche Zahlungsbilanz aufgebessert haben, ziehen die Alliierten ein. Mit Elsass-Lothringen, erst 1871 annektiert und jetzt wieder an Frankreich angeschlossen, verliert das Reich drei Viertel seines Eisenerzes sowie ein Viertel seiner Kohleproduktion – damals die Basis für fast alle Wirtschaftszweige und damit so wichtig wie später Erdöl oder heute Computerbausteine.
Außerdem hat Deutschland Reparationen an die Sieger zu zahlen. Mit einem bis vier Prozent des jährlichen Bruttosozialproduktes (in Höhe von 50 Milliarden Reichsmark) sind diese aber eher ein psychologisches denn ein wirkliches Investitionshemmnis. Das ist nur etwa so viel, wie die Deutschen nach dem Ölschock 1973 für ihr Rohöl mehr bezahlen müssen und damit kein Grund für eine schwere Rezession. Das Problem sind also nicht die Reparationen, sondern das veränderte Weltwirtschaftsklima: Vorher, während des langen Kondratieffaufschwungs, haben die Deutschen Devisen im Export gut erwirtschaften können. Das ist jetzt im Abschwung für die Nachbarn ein Problem: Schon wieder würden sie Marktanteile an deutsche Firmen verlieren, deren wirtschaftliche Konkurrenz sie doch gerade erst in einem verlustreichen Krieg niedergekämpft haben. Ihre eigene Arbeitslosigkeit würde weiter steigen. Sie fangen an, ihre Grenzen für ausländische, erst recht für deutsche Waren zu schließen.
Weil die Deutschen die Reparationen jetzt nicht mehr im Export verdienen können, bieten sie Frankreich und Belgien an, die im Krieg zerstörten Ortschaften direkt wieder aufzubauen – mit eigenen Arbeitern und selbst geliefertem Material. In einem langen Kondratieffaufschwung, wenn Produktionsfaktoren wie Arbeiter und Material knapp sind, hätten diese das deutsche Angebot gerne angenommen. Aber so ist es wie früher in den 1880ern: In einem langen Kondratieffabschwung konkurrieren die Akteure eben nicht mehr um Ressourcen, sondern um Märkte. Das Überangebot an Produktionskapazität, ausgebildeten Fachleuten und sonstigem Kapital kann gar nicht ausgelastet werden – die Preise sind unter Druck. Deswegen stößt das deutsche Angebot, Dörfer und Städte in ihrem Land selber aufzubauen, auf den Widerstand innenpolitischer Lobbys – auch das ist Konkurrenz für die eigenen Firmen.
Deutschland kann 1924/25 nur 57,5 Prozent des Handelsvolumens von 1913 exportieren. Seine Handelsbilanz bleibt stets negativ – das heißt, Deutschland kauft zum Beispiel im Jahr 1925 ein Viertel mehr im Ausland ein, als es umgekehrt ins Ausland verkaufen kann. Die Lücke in Höhe von drei Milliarden Mark finanziert das freie, weltweit nach Anlagemöglichkeit suchende amerikanische Fremdkapital – was Deutschland so anfällig macht für den Moment, als die Amerikaner in der Weltwirtschaftskrise ihr kurzfristig verliehenes Kapital aus Deutschland abziehen.
Aber auch die Nachbarn stehen finanziell auf wackeligen Beinen: Ihre Kriegsausgaben haben sie mit US-Krediten finanziert. Weil es lange Zeit so ausgesehen hat, als wenn Deutschland siegen würde, haben die Amerikaner um ihr Geld fürchten müssen und sind auch deswegen in den Krieg gegen Deutschland eingetreten. Danach bitten Frankreich und England die USA, ihnen einen Teil ihrer Schulden zu erlassen – was die USA kategorisch ablehnen. Anders als später im Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie keine Ressourcen zu verschenken. Das ist der Grund, warum Frankreich so unerbittlich Reparationen von Deutschland fordert. Um dem Nachdruck zu verleihen, marschiert es 1923 ins Rheinland ein und löst damit eine Hyperinflation aus.
Normalerweise wird Geld vor allem am Ende eines langen Aufschwungs weniger wert, wenn in der Hochkonjunktur alle Produktionsfaktoren knapp sind und die Preise steigen. Die Inflation von 1923 dagegen – zu Beginn des langen Abschwungs – ist künstlich: Schon während des Krieges hat der Staat vier von fünf Mark, die er ausgibt, auf Pump finanziert; 1919 immerhin noch die Hälfte. Als das Reich während des Ruhrkampfes die Gehälter der Beamten im französisch besetzten Rheinland weiter bezahlt, finanziert es 90 Prozent seiner Ausgaben einfach dadurch, dass die Reichsbank eben mehr Papiergeld druckt. Die nicht durch reale Güter gedeckten Ausgaben entwerten die Reichsmark rapide. Der Mittelstand verliert seine Ersparnisse, seine Kapitallebensversicherungen, seine Renten. Zusammen mit einem Haufen anderer konservativ-nationalistischen Kräfte versucht Hitler in diesen Wirren das erste Mal, die demokratische Regierung wegzuputschen.
Aber nicht nur der deutsche Handel wird behindert: Nach dem Krieg gibt es in Europa nicht mehr 14, sondern 27 verschiedene Währungen und 20.000 Kilometer zusätzliche Grenzen, die Fabriken von ihren Rohstoffen trennen, Stahlwerke von ihren Kohlegruben und landwirtschaftliche Gebiete von ihren Märkten. Der Krieg hat den Welthandel unterbrochen, aber der Waffenstillstand belebt ihn nicht wieder. Versuche zu Beginn der 1920er, zum Freihandel zurückzukehren, scheitern daran, dass plötzlich überall die Preise sinken (wofür eben nicht der Krieg, sondern die nachlassenden Produktivitätsfortschritte im Kondratieffabschwung verantwortlich sind).
Einige Länder subventionieren Exportgüter, um sie im Ausland überhaupt noch verkaufen zu können. Das hilft jedoch nicht der eigenen Ausfuhr, sondern verschwendet die eigenen Steuergelder ebenso wie die der anderen Staaten, die dasselbe tun (das haben wir 2009 mit der Auto-Abwrackprämie erlebt). Außerdem kämpfen alle darum, den Devisenkurs ihrer Währung am schnellsten abzuwerten – damit sie ihre Produktion noch billiger verkaufen können (zu diesem Zweck drucken die USA heute Dollar in großen Mengen ohne entsprechenden Gegenwert). Das Konzept scheitert an der Gegenreaktion des Auslands. Der Welthandel schrumpft. Komparative Handelsvorteile – ein Land kann Produkt A besser herstellen als Produkt B, im Nachbarland ist das genau umgekehrt – verfallen ungenutzt. Dadurch stagniert die Produktivität nicht nur, sie sinkt sogar, weil man mit mehr Ressourcen aufwändig etwas herstellt, was andere eigentlich viel besser können. Wohlstand und Beschäftigung gehen zurück.
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