Название: Die Geschichte der Zukunft
Автор: Erik Händeler
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783865064356
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Mit dem Deutschen Zollverein vervielfacht sich das potenzielle Absatzgebiet. Krupp kommt von seiner zweiten großen Auftragstour durch Süddeutschland mit Aufträgen für zwei Jahre heim. Seine acht Arbeiter können das gar nicht bewältigen, erst recht nicht in Abhängigkeit von dem launigen Flüsschen Berne, das sein Hammerwerk meistens stillstehen lässt. Für eine Dampfmaschine fehlt das Geld. Und dem wenig solventen Unternehmer der damaligen New Economy geben die Banken keinen Kredit. Die Gutehoffnungshütte nimmt den Auftrag zum Bau einer 20PS-Dampfmaschine erst an, als Krupp die persönliche Bürgschaft eines stillen Teilhabers vorlegen kann. Die funktioniert dann zwar nur mäßig und mit höchstens zehn Pferdestärken, aber der Betrieb kann nun endlich ununterbrochen produzieren.
Sein Stahl ist in dieser Zeit noch kein Massenprodukt wie im dritten Kondratieff, aber dennoch wichtig für Maschinen und Lokomotiven, die besonders festes Material benötigen. Daher spiegelt sich in der Zahl der bei Krupp Beschäftigten auch der Verlauf des zweiten Kondratieffs wider (von wegen, es gäbe so etwas wie einen »natürlichen Wachstumspfad«, der die Wirtschaft jedes Jahr statistisch anderthalb Prozent wachsen lasse): Die Essener Stahlschmiede von Krupp beschäftigt während der Revolution 1848 gerade mal 100 Arbeiter. 1857 sind es 1000, 1865 dann 8000, und ihre Zahl verdoppelt sich weiter bis 1873. Die Kondratiefftheorie widerspricht damit der etablierten Wirtschaftswissenschaft vehement: Die Wirtschaft wächst vor allem deswegen, weil massiv in das neue technologische Kompetenznetz eines neuen Kondratieffzyklus investiert wird – in Ausbildung, Infrastruktur und Verhaltensweisen. Nicht mit Zeitreihen makroökonomischer Daten allein, sondern nur mit dem Blick auf soziale Veränderungen ist Wirtschaft zu verstehen.
Wieso früher die Zeiten weder besser, noch die Menschen christlicher waren
Zu den Opfern des neuen Strukturzyklus gehören die Handwerkszünfte und der von einer Familie bestellte Bauernhof. Die neue Wirtschaftseinheit – das sind jetzt der Einzelne und die Fabrik. Die Eltern verlieren die ökonomische Basis für ihre Autorität und moralische Funktion. Anstatt erst dann wirtschaftlich selbständig zu werden, wenn der Meister stirbt oder der Bauer aufs Altenteil geht, ist der Teenager der beginnenden Industriegesellschaft vom ersten selbst verdienten Geld an unabhängig. Bisher hat die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Moralkodex der Eltern und der Dorfgemeinschaft frühe Ehen verhindert – und damit auch mehr Geburten, als die Agrargesellschaft ernähren kann. »Die industrielle Gesellschaft gerät in ein amoralisches Interregnum zwischen einem Moralkodex, der auseinander bricht, und einem neuen, der noch keine Gestalt angenommen hat.«32
Wieder ist das freie Wirtschaften, ist der Liberalismus eine Emanzipationsbewegung, die zu Beginn destruktiv ist und erst 100 Jahre später durch die soziale Marktwirtschaft domestiziert wird. Viele Fabrikanten geben ihren Arbeitern kein Geld auf die Hand, sondern Gutscheine, mit denen sie zu überhöhten Preisen in dem unternehmereigenen Geschäft einkaufen müssen. Der saarländische Berg- und Hüttenwerksbesitzer Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg verkündet lauthals seine mittelalterliche Auffassung vom Herrschen und Gehorchen.33 Eine Fabrik sei ein Gebilde, das militärisch, nicht parlamentarisch zu organisieren sei. Er ist der Herr-im-Haus: Sogar die Erlaubnis, ob jemand heiraten darf, maßt er sich an, oder ob ein Untergebener gegen einen anderen Betriebsangehörigen vor Gericht ziehen darf oder nicht. Arbeiter, die auch nur in ein Wirtshaus gehen, in dem sozialdemokratische Versammlungen stattfinden, werden entlassen. Er lässt seine Arbeiter bespitzeln, belohnt Denunzianten, bestraft jeden, der seiner Meinung nach vom rechten Weg abgekommen ist. Sie haben – zumindest was er darunter versteht – gottesfürchtig, gehorsam und dankbar zu sein. Und die meisten sind es auch, oder tun zumindest so.
In den Erzgruben Oberschlesiens herrschen Mitte des 19. Jahrhunderts Zustände wie bei der mittelalterlichen Leibeigenschaft: Wer nicht spurt, wird davongejagt, und wenn die Arbeiter aufmucken, bringt das Militär die Bergarbeiter unter die Erde – so oder so. Schließlich kommen genug Arbeitshungrige aus dem Osten nach. Die Magnaten sehen ihren Reichtum als gottgegeben an und unternehmen nichts, um die Zukunft der Region abzusichern, wenn das Erz abgebaut ist – so wie heute manche Ölscheichs. Ihre Renommierschlösser bauen sie in Sichtweite der Arbeitersiedlungen, in denen Zehntausende zusammengepfercht am Existenzminimum dahinvegetieren, während die »Herrschaft« von goldenen Tellern speist.
Trotz harter und fast ständiger Arbeit bleibt den einfachen Menschen zunächst wenig übrig: Unseren Vorfahren vor sechs Generationen werden nicht nur die Ressourcen für die aktuellen Investitionen in Eisenbahn und Infrastruktur (die wir heute noch nutzen) vom Munde abgespart, sondern auch noch die Mittel für die industrielle Aufholjagd des rückständigen Landes. Wir sollten Denkmäler für die errichten, die unter erzwungenem Konsumverzicht und um den Preis vieler Lebensjahre Gleisdämme geschaufelt und Brückenpfeiler vermörtelt haben.
Denn auf dem Höhepunkt des zweiten Kondratieffs wird ein Berliner Maurer im Durchschnitt 45 Jahre alt, ein Fabrikarbeiter 43,5 und ein Weber nur 32 Jahre. Häufigste Todesursache ist Tuberkulose.34 90 Stunden pro Woche beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit für Erwachsene zwischen der Revolution von 1848 und der Reichsgründung, Frauen und Kinder schuften unter Tage. Kinderarbeit wird dann aber (leider) nicht deswegen gemildert, weil sich jemand der Kinder erbarmt. Wer sich als Erster dagegen wirkungsvoll wehrt, ist die preußische Armee, die mit den ausgemergelten, krummen Achtzehnjährigen nichts anfangen kann. Der preußische Kriegsminister von Horn macht sich große Sorgen darüber, dass das »Rekrutenmaterial« von Jahr zu Jahr schlechter werde.
Kein Wunder, liest man Briefe von Friedrich Engels, die er im März 1839 aus Wuppertal schreibt: »In Elberfeld allein werden von 2500 schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er einem Kind gibt.« Selbst Kinder unter neun Jahren müssen bis zu 14 Stunden am Tag schwerstarbeiten. Ein amtlicher Bericht beschreibt die schweren Schäden an den minderjährigen Arbeitskräften: »Bleiche Gesichter, matte und entzündete Augen, geschwollene Leiber, aufgedunsene Backen, geschwollene Lippen und Nasenflügel, Drüsenschwellungen am Hals, böse Hautausschläge und asthmatische Zustände …, die sie in gesundheitlicher Beziehung von anderen Kindern derselben Volksklasse, welche nicht in Fabriken arbeiten, unterscheiden.« Auf Druck der Armee schreitet das »königlich preußische Fabrikregulativ« am 9. März 1839 dagegen ein: Kinder unter neun Jahren dürfen nicht mehr in Fabriken beschäftigt werden, Jugendliche bis 16 Jahre nicht mehr als zehn Stunden. Mit den Dorfstrukturen und den Familienbanden hat sich auch das Geschlechtsleben gelockert – von wegen, die 1970er Jahre wären die Zeit der sexuellen »Befreiung« gewesen.
Je rücksichtsloser die Industriegesellschaft voranschreitet, umso größer wird vor allem die Not der Frauen, die aus den verarmten Bauernhöfen oder lohnabhängigen Großgütern in die Städte strömen. Während ledige Mütter in Preußen nach dem »Allgemeinen Landrecht« von 1794 vom Vater des Kindes Alimente verlangen konnten, befreit 1854 ein neues Gesetz die unehelichen Väter von allen finanziellen Verpflichtungen. Unter den 17- bis 45-jährigen Frauen in Berlin geht 1846 etwa jede achte der Prostitution nach35, die allesamt der ärmeren hilflosen Klasse angehören.
Die unglücklichen Bürgertöchter, die seit ihrem 17. Lebensjahr zu Hause herumsitzen und darauf warten müssen, dass sie geheiratet werden, reagieren mit Prüderie bis Leibfeindlichkeit, auch um sich von der Unterschicht abzugrenzen. Das züchtig Zugeknöpfte, in Wirklichkeit ein Statussymbol des aufkommenden Bürgertums des 19. Jahrhunderts, übertrifft die bis dahin vorhandene religiös motivierte Vorsicht im Umgang mit Sexualität – man denke nur an die prallen Abbildungen in früheren Barockkirchen und daran, dass der eheliche Geschlechtsakt in der katholischen Kirche sogar mit einem Sakrament geheiligt ist.
Zwischen der neuen Arbeiterschicht und den Kirchen herrscht anfangs Sprachlosigkeit. Die СКАЧАТЬ