Название: Ruanda
Автор: Gerd Hankel
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783866744875
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Wer von Krieg (guerre) sprach, meinte damit den Krieg, der am 1. Oktober 1990 angefangen hatte. An diesem Tag hatte der militärische Arm der FPR, die APR, das Land angegriffen. Die FPR war 1987 in Uganda gegründet worden, ihre Mitglieder waren zum größten Teil Tutsi, die dort Zuflucht gefunden hatten aus Angst vor Verfolgung in Ruanda. Ziel der FPR war es, die Rückkehr der Flüchtlinge, die zum Teil schon seit Jahrzehnten unter schwierigen Umständen in Uganda lebten, mit militärischen Mitteln zu erzwingen und auf diesem Weg zugleich das autoritäre, sich auf die Hutu-Mehrheit in Ruanda stützende Regime des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana zu beseitigen. Doch schon nach einem Monat war der Angriff der etwa 2500 FPR-Kämpfer zurückgeschlagen. Belgische, zairische und vor allem französische Militärunterstützung hatten, gepaart mit internationalem Druck, den Vormarsch gestoppt und erfolgreich eine Gegenoffensive ermöglicht. Aber die FPR hatte sich als politisch-militärischer Faktor bemerkbar gemacht und sie erwies sich in den folgenden Jahren als strategisch lernfähig und überaus diszipliniert. Kleinere Einfälle und größere Angriffe führten schließlich Anfang 1993 zu beträchtlichen Geländegewinnen entlang der Nordgrenze Ruandas und zur Einrichtung einer »befreiten Zone«.
Die FPR war nach Ruanda zurückgekehrt und für die Staatsführung, die längst zwischen verschiedenen, sich an Radikalität überbietenden Strömungen zerrissen war, zu einem Akteur geworden, mit dem sie sich arrangieren musste. In den Friedensverhandlungen von Arusha wurde die Einsetzung einer »Übergangsregierung auf erweiterter Basis« (Gouvernement de transition à base élargie) und eines »Übergangsparlaments« (Assemblée nationale de transition) beschlossen, in dem auch die FPR vertreten sein sollte. Militär und Polizei, bislang fast ausschließlich Domänen der Hutu, sollten bis in die Offiziersränge hinein und bis zu einer 50-zu-50-Parität für Tutsi zugänglich sein. Umgesetzt werden sollten die Vereinbarungen in konstruktiver Begleitung einer aus zirka 2500 Personen bestehenden UN-Mission, die als Friedensmission deklariert war, deren Soldaten daher Waffen nur zur Selbstverteidigung einsetzen durften. Hinzu kam noch, als vertrauensbildende Maßnahme, ein Bataillon von 600 FPR-Soldaten in der Hauptstadt Kigali, dessen Aufgabe es war, für den Schutz der künftigen FPR-Minister und -Abgeordneten zu sorgen.124
Das war die Situation um die Jahreswende 1993/1994. Darüber im Rückblick aus der Perspektive des Jahres 2002 sprechend, hieß für FPR-nahe ruandische Tutsi, den Krieg als alternativlosen Auftakt zur Befreiung des Landes von einem völkermörderischen Regime wahrzunehmen. Er war, nach jahrzehntelanger Unterdrückung, der erste Schritt zu dessen Überwindung. Dass dazu Gewalt angewandt und Leid zugefügt wurde, ging auf und verschwand in der späteren Gewalterfahrung während des Völkermords, der genau wegen dieser Gewaltintensität als etwas anderes, vom Krieg Losgelöstes verstanden werden musste.
Für Hutu hingegen, vor allem für solche, die im Norden des Landes längs der ruandisch-ugandischen Grenze lebten, war der Krieg ein Symbol für Tod und Vertreibung. Überfälle auf Dörfer und Städte, die Ermordung auch von Frauen und Kindern mit Macheten und Feldhacken, die Eliminierung von Personen, die als »intellektuell« galten (Bürgermeister, Lehrer, Beamte), schufen ein Klima der Angst, ja der Panik.125 Bewohner ganzer Gemeinden mit dem Bürgermeister und den Verwaltungsbeamten an der Spitze flohen, um nach dem Rückzug der FPR in ihre Dörfer zurückzukehren und 1993 aus der dann »befreiten Zone« erneut zu fliehen. Fast eine Million Flüchtlinge, mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung von damals zirka 7,5 Millionen, hatte in mehreren Lagern gut 60 Kilometer nördlich von Kigali Zuflucht gefunden. Wer die Situation dort beschreiben wollte, sollte sich später auf Roméo Dallaire berufen können, der seine Eindrücke vom August 1993, kurz nach seiner Ankunft in Ruanda als Leiter der UN-Friedensmission, folgendermaßen wiedergibt:
»Und dann, inmitten dieser ländlichen Idylle, stießen wir auf eine teuflische Erinnerung an den langen Bürgerkrieg.
Wir rochen das Lager, noch bevor wir es sahen, eine giftige Mischung aus Fäkalien, Urin, Erbrochenem und Tod. Ein Wald aus blauen Plastikbahnen bedeckte eine ganze Hügelseite, wo 60 000 Vertriebene […] auf wenigen Quadratkilometern zusammengepfercht lebten. Als wir hielten und aus unseren Fahrzeugen stiegen, umschwärmten uns dichte Wolken von Fliegen, die an unseren Augen und Mündern kleben blieben und in unsere Ohren und Nasen krochen. Es war kaum möglich, sich bei dem Gestank nicht zu erbrechen, aber der Fliegen wegen konnten wir auch nicht durch den Mund atmen. Eine junge belgische Mitarbeiterin des Roten Kreuzes erblickte uns und unterbrach ihre Arbeit, um uns durchs Lager zu führen. Die Flüchtlinge kauerten um kleine offene Feuer zusammen, eine stille, geisterhafte Menge, die uns träge mit den Augen folgte, während wir behutsam unseren Weg durch den Schmutz des Lagers suchten. […]
Die Szene war erschütternd, es war das erste Mal, dass ich solches Leid sah, ohne dass es durch die künstliche Linse des Fernsehens gefiltert wurde. Am schockierendsten von allem war der Anblick einer alten Frau, die allein dalag und ruhig den Tod erwartete. Sie mochte nicht mehr als ein dutzend Kilo wiegen. Schmerz und Verzweiflung durchfurchten jede Linie ihres Gesichts. Sie lag inmitten der Überreste ihres Schutzzeltes, das bereits seiner Plastikplane und aller persönlichen Dinge beraubt war. In der erbarmungslosen Welt des Camps war sie bereits abgeschrieben, ihre kärglichen Besitztümer hatten die gesünderen Nachbarn unter sich aufgeteilt.«126
Das Gefühl von Angst und Panik, so würde der gedachte Vertreter der Hutu-Bevölkerung fortfahren, dauerte an, als der Krieg am Abend des 6. April 1994 in eine Phase bis dahin nicht gekannter Intensität trat. Das Gefühl erfasste weniger die Täter der Morde an den Tutsi und ihre Unterstützer, die vor den vorrückenden FPR-Kämpfern flohen und dabei noch genügend Zeit fanden, immer neue Massenmorde zu begehen. Vielmehr waren es Hutu, die nicht am Krieg teilgenommen und sogar Tutsi gerettet hatten, die um ihr Leben fürchten mussten und manchmal auch noch um das der von ihnen Geretteten. Nicht selten nämlich hätten die Eroberer des Landes die im Vertrauen auf ihre Unschuld in ihren Dörfern Gebliebenen zu Versammlungen befohlen, um ihnen die Grundzüge der neuen Politik bekannt zu geben. Statt Worte seien jedoch Schüsse gefallen, so lange, bis niemand mehr gelebt habe. Hunderte, je nach Größe des Dorfes auch über tausend Tote habe es so gegeben. Kwitaba inama (dem Ruf einer Versammlung Folge leisten) sei in Wirklichkeit kwitaba imana (dem Ruf Gottes folgen) gewesen, hieß es in bitterem allerschwärzesten Humor noch Jahre später.127
Die Überlebenden beziehungsweise diejenigen, die ihren Erzählungen Glauben schenkten, hatten keinen Zweifel: Das waren Massaker, die nicht ungesühnt bleiben durften. Nur waren jetzt die Täter Tutsi und nicht Hutu, wie bei den Massakern an den tatsächlichen oder vermeintlichen Oppositionellen des Habyarimana-Regimes während des Völkermordes. Wenn also in Ruanda der Begriff »Massaker« fiel, weckte er Assoziationen, die alles andere als deckungsgleich waren. Wohl war in dieser Phase die Opfergruppe identisch, Täter und Tatumstände waren es jedoch nicht. Wo in einem Fall die Täter unter den späteren Siegern des Krieges gesucht werden mussten (das war bekanntlich die Tutsi-dominierte APR), gehörten sie im andern zur Gruppe derer, die die Verbrechen in der Spätphase des Krieges, das heißt im Kontext des Völkermords und sozusagen zu dessen vereinfachter Durchführung begangen hatten (die Morde der Hutu-Extremisten an den sogenannten »gemäßigten Hutu«/(Hutu modérés). Tutsi als Täter, Hutu als Täter, und in beiden Fällen Hutu als Opfer, das dürfe nicht vergessen oder durch die fortwährende, unausgesprochen kollektiv gemeinte Anklage der Hutu wegen der Völkermordverbrechen verdrängt werden.128
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