Название: Ruanda
Автор: Gerd Hankel
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783866744875
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Zwei Tage später, am 4. September 1998, folgte bereits das zweite Urteil. Jean Kambanda, der Premierminister zur Zeit des Völkermords, hatte sich in allen Anklagepunkten schuldig bekannt.94 Damit war innerhalb kurzer Zeit und nun von allerhöchster, »kompetenter« Stelle erneut vor der Weltöffentlichkeit bestätigt worden, dass in Ruanda ein Völkermord stattgefunden hatte und dass dieser möglichst vollständig durchgeführt werden sollte.
Ohne ein Minimum an Kooperationsbereitschaft, das war allen Beteiligten von Anfang an klar,95 würde das Gericht nicht arbeiten können. Und da Kooperation eine Tätigkeit voraussetzt, war sie aus ruandischer Sicht immer dann gut und förderungswürdig, wenn das Gericht tätig war, das heißt Urteile verhängte, die den Horror des Völkermords und das Leiden der Opfer aller Welt deutlich vor Augen führten. Mehrfach schon hatte Ruanda wegen schleppender Gerichtstätigkeit oder vom Gericht nicht monierter, zynischer Zeuginnenbefragung damit gedroht, nicht mehr mit dem Tribunal in Arusha zusammenzuarbeiten. Zuletzt Ende 1999, als die Berufungskammer des Gerichts beschlossen hatte, die Anklage gegen Jean-Bosco Barayagwiza zurückzuweisen und seine umgehende Haftentlassung anzuordnen. Er war über 300 Tage in Haft gehalten worden, ohne den Grund für seine Inhaftierung erfahren zu haben, was nach Meinung der Kammer einen eklatanten Verstoß gegen die aus dem Habeas-Corpus-Grundsatz resultierenden Verfahrensgarantien zugunsten des Beschuldigten darstellte.96 Der Beschluss war jedoch von der Kammer wenige Monate später wieder aufgehoben worden, weil, so die Begründung, neue Tatsachen aufgetaucht seien, die den Verstoß gegen den Habeas-Corpus-Grundsatz als längst nicht so gravierend erscheinen ließen und die Haftentlassung daher nicht zu rechtfertigen vermochten. Ruanda, das von der Schuld Barayagwizas überzeugt war,97 hatte sich offensichtlich durchgesetzt. Obwohl die Kammer dem Beschuldigten in ihrer korrigierenden Entscheidung für den Fall seiner Verurteilung noch eine Strafmilderung versprochen hatte,98 liegt der Eindruck nahe, dass eine ernsthafte Belastung des Verhältnisses zu Ruanda unbedingt vermieden werden sollte. Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, was zu jener Zeit zunehmend in den Fokus der Anklagebehörde geriet und mit dem Namen ihrer Leiterin, Carla Del Ponte, zu verbinden ist. Denn während ihre Amtsvorgänger bis September 1999, der Südafrikaner Richard Goldstone und die Kanadierin Louise Arbour, ihr Mandat so verstanden hatten, dass es sich ausschließlich auf Verbrechen extremistischer Hutu, begangen an Tutsi und oppositionellen Hutu, bezieht, verstand es die Schweizerin Del Ponte als einen in alle Richtungen gehenden Ermittlungsauftrag. Das schloss Verbrechen der FPR, die diese mutmaßlich bei der Eroberung des Landes 1994 begangen hatte – Zahlenangaben bewegen sich zwischen 25 000 und 45 000 Getöteten, Zeugenaussagen zufolge liegen sie noch bedeutend höher99 – mit ein. »Für mich ist ein Opfer ein Opfer«, bemerkte Del Ponte dazu. »Jedes Verbrechen, das in meine Zuständigkeit fällt, ist ein Verbrechen, unabhängig von der Identität, der Ethnie oder den politischen Vorstellungen der Täter. Die Justiz gehorcht keinem politischen Opportunismus.«100
In den Ohren ruandischer Regierungsvertreter klang das, 2002 als Selbstverständlichkeit formuliert, wie eine Kampfansage und fügte sich nahtlos ein in die Empörung über neuerliche Opfer- und Zeuginnenbefragungen, die in einer entwürdigenden Weise vorgenommen worden waren.101 »Jedes Verbrechen, das Angehörige der RPA [= APR, G. H.] begangen hatten, wurde untersucht und geahndet«, erklärte kategorisch der ruandische Übergangspräsident Paul Kagame und fügte an die Adresse der internationalen Gemeinschaft und des Ruanda-Tribunals hinzu: »Sie wissen das ganz genau. Wir haben nicht so agiert wie die Kräfte, die den Völkermord verübt haben. Von der damaligen Regierung bestrafte niemand diejenigen, die die Verbrechen begingen, im Gegenteil, es war so, als ob sie für ihre Verbrechen noch belohnt worden wären. Wie kann es da der Strafgerichtshof in Arusha wagen, die RPA, die den Völkermord beendet hat, auf dieselbe Stufe zu stellen wie die génocidaires, die wirklichen Täter des Völkermords. Wir wehren uns gegen diese Art des Denkens.« Und direkt auf das Tribunal bezogen sagte er noch, einen alten Vorwurf wiederholend: »Man muss doch nur die Mittel, die dem Gericht zur Verfügung gestellt werden, mit den Ergebnissen vergleichen. Dutzende Millionen US-Dollar werden ausgegeben, und doch dauern die Prozesse so lang und sind einige Fälle schon so lange anhängig.«102
Nach ruandischem Verständnis war jede Kritik an »Arusha« zugleich ein Grund mehr für die Reaktivierung von Gacaca. In der Summe wurde Gacaca damit zu einer Verheißung von Versöhnung und Frieden gegen einen institutionalisierten Missstand, der als Zumutung empfunden werden musste. »Er hat nicht die geringste moralische Autorität«, fasste Kagme die ruandische Position zusammen, als er auf die Kritik am internationalen Gerichtshof angesprochen wurde.103 Die Moral, das Recht der Entscheidung, liegt auf unserer Seite, bedeutete das. Aber konnte die Gacaca-Gerichtsbarkeit, Kernpunkt dieser Entscheidung und Gegenmodell, die in sie gesetzten Erwartungen überhaupt erfüllen? War sie nach ihrem ursprünglichen Inhalt und später hinzugefügtem Konzept das geeignete Instrument, um über alle Beschwörungsformeln hinaus Annäherung und inneren Frieden in Ruanda zu ermöglichen?
So weit wie die Quellen aus präkolonialer Zeit Auskunft geben, war Gacaca eine Einrichtung, die der einvernehmlichen Streitschlichtung diente. Sie gehorchte keinen festen Regeln, unterstand keiner zeitlichen Vorgabe und kannte weder ein individualisiertes Verständnis von Täterschaft noch eine klare Unterscheidung zwischen Verfahrensbeteiligten, Zeugen und Zuhörerschaft. Sie war eine partizipative Justiz, die unter dem Vorsitz eines Inyangamugayo und in einem Prozess von Rede und Gegenrede einen Konflikt so zu lösen versuchte, dass der Frieden innerhalb der Gruppe – gewöhnlich eine Großfamilie oder ein Clan – wieder hergestellt war. Das war möglich, weil die Autorität von Gacaca auf der Einsicht in die Notwendigkeit einer intakten Gemeinschaft gründete. Ubuntu wurde diese wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft genannt, ihre Beachtung genoss unbedingten Vorrang vor einer Bestrafung. Das bezog sich auch auf schwerwiegendere Verbrechen, wenngleich Gacaca meist bei kleineren Delikten wie Beleidigung oder Körperverletzung oder bei Streitigkeiten über Grundstücks-, Erb- und sonstige Vertragsfragen Anwendung fand. Bei Mord oder vergleichbaren Straftaten (dazu zählte auch Diebstahl) hatten der Verletzte beziehungsweise dessen Gemeinschaft zunächst das Recht der Rache (nur an den männlichen Mitgliedern der Gemeinschaft des Rechtsverletzers), es sei denn, der König (Mwami) machte sein Recht geltend, ein Urteil zu fällen, oder er verwies den Fall an ein Gacaca-Gericht, das daraufhin eigenständig und unabhängig tätig wurde. Statt der Leistung von Schadenersatz oder von tätiger Wiedergutmachung, die mit dem gemeinschaftlichen Trinken eines Krugs Bananenbier besiegelt wurde, konnte dann – und bei einem Tötungsdelikt war das die angestrebte Ideallösung – eine Heirat zwischen den betroffenen Gemeinschaften arrangiert werden. Kinder aus dieser Verbindung galten als »Ersatz« für die Getöteten.104
In der Kolonialzeit verlor Gacaca erheblich an Bedeutung. Mit der Durchsetzung des kolonialen Gewaltmonopols erhielten staatliche Gerichte, die in ihren Instanzen der Herrschaftsstruktur des Landes nachgebildet waren, die Zuständigkeit für die Ahndung von Gewaltkriminalität und größere zivilrechtliche Angelegenheiten. An die Stelle des restaurativen, auf sozialen Ausgleich bedachten Elements, trat das retributive, das auf Vergeltung und die abschreckende Wirkung der Strafe setzte. Die informelle Gacaca-Justiz befasste sich nur noch mit dem, was vor allem in ländlichen Gebieten – und das waren die bei weitem größten Teile Ruandas – an kleineren sozialen Konflikten aufbrach, wie in der Vergangenheit mit vornehmlich restaurativer Zielsetzung.105 Die Verfassung von November 1962, die sich das zum 1. Juli desselben Jahres unabhängig gewordene Ruanda gegeben hatte, versuchte den Rechtsdualismus zwischen staatlichem und traditionellem informellen Recht zu beenden, indem Letzteres »kodifiziert und mit den Prinzipien der Verfassung in Einklang gebracht wird«.106 Dennoch blieb Gacaca nachweislich bis in die 1980er Jahre hinein eine verbreitete Praxis der Streitschlichtung.107
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