Ruanda. Gerd Hankel
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Название: Ruanda

Автор: Gerd Hankel

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежная публицистика

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isbn: 9783866744875

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СКАЧАТЬ die im postkolonialen Ruanda zwar nicht unter dem Signum »Völkermord«, aber als immerhin strafbewehrte Taten wie Mord, Vergewaltigung oder Körperverletzung im ruandischen Strafgesetzbuch firmierten?108 Denn diesen Taten und ihren Rechtsfolgen liegt die im Strafrecht typische Gerechtigkeitsannahme zugrunde,109 dass Strafe in erster Linie und in Abhängigkeit von der bestehenden Rechtskultur durch ihr Verhältnis zum Tatgewicht bestimmt und am Maß der individuellen Schuld festgemacht wird. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf den Täter, das Opfer tritt nur zur Bestimmung der Tat und ihrer Auswirkungen in Erscheinung. Diese Aufspaltung in das Handeln einer Täterpartei und das Leiden einer Opferpartei ist der informellen Justiz wie Gacaca jedoch fremd. Ihr geht es darum, dass alle Beteiligten den eigenen Anteil am Konflikt erkennen und Verantwortung für einen Teil der Lösung übernehmen. Recht ist, was allen recht ist, und nicht das, was sich an den Normen eines kodifizierten Rechtssystems ausrichten muss, das abstrakt Gleiches gleich behandelt und durch eine höhere Instanz hinterfragt werden kann.110

      Wie wir bereits gesehen haben, ist Gacaca auch in der aktualisierten Form eine Gerichtsbarkeit, die sich auf die Weisheit der Inyangamugayo stützt, jetzt allerdings ergänzt um weibliche Mitglieder. Die lokale Bevölkerung ist anwesend (wiederum sind erstmals Frauen zugelassen), die den Part des Anklägers oder Verteidigers übernimmt. Und zuletzt sind auch die Urteile, die das Gacaca-Gericht fällen kann und soll, solche, die zuallererst auf die Wiederherstellung des Friedens innerhalb der von der Tat betroffenen Gemeinschaft abzielen. Wie schon bei der früheren Form von Gacaca ist dazu eine gewisse Kooperation zwischen Tätern und Opfern notwendig, das heißt: Täter sollen ihre Taten gestehen, das begangene Unrecht anerkennen und um Verzeihung bitten; Opfer sollen Verzeihung gewähren. Je nach Kooperationswilligkeit erhält der Täter dafür eine Strafmilderung, während das Opfer eine Entschädigung durch die gemeinnützige Arbeit (travaux d’intérêt général/TIG) erhalten kann, die der einsichtige kooperationsbereite Täter außerhalb des Gefängnisses erbringt.

      Der alte Gacaca-Gedanke ist somit unschwer in dem neuen zu erkennen. Allerdings gibt es auch Unterschiede. Das Verfahren ist nunmehr formalisiert, Regeln sind aufgestellt worden für den Verfahrensablauf, für den Aufbau und die Strafkompetenz der Gerichte und für die Möglichkeit der Einlegung von Rechtsmitteln.111 Doch der größte Unterschied ist, dass die eigentliche Zuständigkeit der Gacaca-Gerichte jetzt eine ist, die es vormals nur in Ausnahmesituationen gegeben hat. Jetzt geht es fast ausschließlich um Verbrechen, die nach internationalen Abkommen als besonders strafwürdig gelten und im ruandischen Strafgesetzbuch zu den schlimmsten gehören. Die individuell zurechenbare Strafe ist innerhalb eines bestimmten Rahmens vorgegeben und nicht mehr rituell ersetzbar, und statt früherer Unabhängigkeit des Gacaca-Gerichts übt der Staat nun durch seine oberste Justizbehörde die Fachaufsicht über die gesamte Gacaca-Justiz aus.112

      Wollte man diese Verbindung von altem traditionellen Recht in Ruanda mit modernen Verbrechenskategorien und ihren Zurechnungsmodalitäten in einen Satz fassen, so könnte man sagen: Ein Völkermord und die ihn begleitenden Verbrechen werden, unter dem wachsamen Auge des Staates und unter Rückgriff auf kulturelle Prägungen, in einer kollektiven justiziellen Anstrengung mit dem Ziel aufgearbeitet, über Strafe beziehungsweise Verzicht auf Strafe das Fundament eines erträglichen Zusammenlebens von Tätern und Opfern herzustellen.

      Wir haben auch bereits gesehen, dass es skeptische Stimmen zur Perspektive einer solchen Verbindung gab. Einer im Herbst 2002 veröffentlichten Umfrage zufolge war es sogar die Mehrheit der landesweit über 1600 befragten Ruander, die nicht wusste wie Gacaca, trotz ihrer in unzähligen Veranstaltungen, in Zeitungen und im Radio propagierten neuen Inhalte und Ziele, den Herausforderungen gerecht werden will. Dass die Verfahren beschleunigt werden und die lokalen Gemeinschaften eine größere Mitwirkung haben sollen, war den meisten jedoch bekannt und traf auf Zustimmung. Aber nur 7,3 Prozent der Befragten waren der Meinung, Gacaca würde in besonderer Weise zur Versöhnung beitragen.113 Sind also die Zustimmungsbekundungen zu Gacaca, ob nüchtern oder euphorisch vorgebracht,114 nicht auch Beschwörungsformeln, deren autosuggestive Kraft Unsicherheit und Angst verdrängen soll? Dafür spricht ein weiteres Ergebnis der Umfrage. Über 90 Prozent der Befragten hatten die Anfänge des Völkermords in Ruanda erlebt, 36,1 Prozent von ihnen hatten durch den Völkermord Familienangehörige verloren, bei weiteren 23,4 Prozent waren der Verlust auf Massaker zurückzuführen (massacre im Original) und von 37,7 Prozent der Befragten saßen Familienmitglieder wegen mutmaßlicher Völkermordverbrechen im Gefängnis.115 Nimmt man die Umfrage als repräsentativ an (was sie nach dem Willen ihrer konzeptionellen Planer sein sollte),116 war deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung Ruandas in ihrem engsten familiären Umfeld unmittelbarer Gewalterfahrung ausgesetzt gewesen, mehr als ein Drittel, zum Teil damit identisch,117 musste sich täglich aus der Täterperspektive zu den begangenen Verbrechen in Beziehung setzen. Ein Land in einer »kollektiven sozialen Grenzsituation« nannte dies Simon Gasibirege, ein in Ruanda bekannter Sozialpsychologe und Autor einer Studie über die Ergebnisse dieser Befragung.118

      Allerdings ist hier noch eine andere Deutung möglich. Im Befund stimmt sie mit Gasibireges überein, in der Erklärung indes unterscheidet sie sich ganz erheblich. Nicht das Unbehagen oder die Angst vor einer erneuten intensiven Auseinandersetzung mit vergangenem Leid und Abgründen menschlichen Verhaltens sind danach der Grund für die tiefer liegende Skepsis der Ruander, es ist im Gegenteil die Befürchtung, dass Verbrechen, die im Umfeld des Völkermords begangen worden sind, verschwiegen und tabuisiert werden könnten. Massaker (massacres) ist der Schlüsselbegriff. Er kann Gewalttaten von Hutu an Hutu bedeuten, die aus Sicht der Täter der landesverräterischen Sympathie mit der FPR verdächtig waren und darum getötet wurden, jedoch wegen der Definition der in der Völkermordkonvention geschützten Gruppen119 nicht als Völkermordopfer galten. Er kann aber auch Gewalttaten von FPR-Kämpfern an Hutu bedeuten, begangen im Verlauf des Bürgerkriegs oder aus Rache für den Völkermord bei der Eroberung des Landes und anschließenden Festigung der Macht. Um genau diese letztgenannten Gewalttaten geht es, wenn, wie beispielsweise im Gefängnis von Nyankenke, Hutu den gewaltsamen Tod von Familienangehörigen beklagen oder wenn in Interviews gefordert wird, die Verbrechen beider Seiten zum Verfahrensgegenstand zu machen, da andernfalls Gacaca keine versöhnende Kraft haben werde.120 Es ist gewiss auch kein Zufall, dass mit der Konkretisierung der Gacaca-Gesetzgebung wieder alte Anschuldigungen zirkulieren, die sich auf die Ermordung Unschuldiger durch die FPR beziehen, allen voran von Priestern und Bischöfen, die sich für verfolgte Tutsi eingesetzt haben.121 Das mögen Einzelstimmen gewesen sein, ihre Wirkung in einer Bevölkerung, die tief gespalten war und deren demografisch mit Abstand größter Teil in einer Mischung aus Fremdzuschreibung und entsprechend skandalisierender Eigenwahrnehmung kollektiv als Völkermordtäter galt, ist hingegen groß. Die offizielle Verheißung einer versöhnenden Justiz stieß so auf eine Gefühlslage, die mit ihren unterschiedlichen Erwartungen sowohl Enttäuschung als auch, wie schon hinsichtlich der internationalen Justiz, die Erfahrung von Rechtsanwendung als Akt der Zumutung erzeugen konnte.

      Dass jede Seite, der Staat eingeschlossen, ihre Sicht für begründet und für die letztlich einzig richtige hielt, sollte sich bald zeigen. Die Vergangenheit und die aus ihr jeweils zu lesende Erinnerung waren eben sehr präsent.

      Der Völkermord in Ruanda hat eine Vorgeschichte. Er ist nicht überraschend geschehen und auch nicht ohne Vorbereitung. Der Völkermord stellt die extreme Eskalationsstufe eines Krieges dar, in dem Vernichtungsrhetorik nicht nur auf Propaganda beschränkt war, sondern auch Eingang in normale Nachrichten gefunden hatte. Wo Tötungsbereitschaft nicht schon vorhanden war, wurde sie gezielt gefördert oder erzwungen. Ein Menschenleben galt nichts und im Vernichtungsfuror wurde, so wird berichtet, der kurze, schmerzlose Tod zu einem Privileg.122

      Mit diesen Sätzen könnte ein Tutsi Ruandas, fragte man ihn nach der Gewalt und Gewaltentwicklung gegenüber sich und seiner Bevölkerungsgruppe, seine Beobachtungen und Erfahrungen zusammenfassen. Fragte man einen Hutu Ruandas, müsste man damit rechnen, dass er Gewalt und Gewaltentwicklung gegenüber sich und anderen Hutu СКАЧАТЬ