Название: Ruanda
Автор: Gerd Hankel
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783866744875
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Unter ruandischen Politikern, Juristen und Journalisten scheint die Forderung weit verbreitet, dass die Welt, die 1994 beim Völkermord tatenlos zugesehen habe, moralisch und vielleicht auch rechtlich verpflichtet sei, Ruanda bei seinen Versuchen zu unterstützen, die Folgen des Völkermords zu überwinden. Kaum ein Gespräch über den Völkermord – und ein solches Gespräch 2002, acht Jahre danach, nicht zu führen, war letztlich unmöglich –, in dem nicht an die Verantwortung des Auslands für den friedlichen Wiederaufbau Ruandas appelliert wird. »Die Deutschen kennen sich doch aus mit Versöhnung«, stellt Odette Nyiramilimo noch am Ende unseres Gesprächs fest, und in der Tat neigen diejenigen unter meinen Gesprächspartnern, die sich in der Geschichte ihres ehemaligen Kolonialherren auskennen – Ruanda war von 1898 bis 1916 deutsche Kolonie – dazu, Deutschen pauschal eine gewisse Expertise im Umgang mit Völkermord zu unterstellen. »Es wäre gut, wenn sich Deutschland stärker in den ruandischen Versöhnungsprozess einbringen könnte«, wünscht sich auch Célestin G., ein promovierter Sozialwissenschaftler, der längere Zeit in Deutschland gelebt und den Völkermord in einem Flüchtlingslager nahe der burundischen Grenze überlebt hat. Und er fügt hinzu: »Der Versöhnungsprozess, wenn man ihn denn so nennen will, wird schwierig werden. Gacaca ist zwar Teil unserer Tradition und schlechter als in Arusha kann es nicht laufen, aber die Probleme sind für den, der sie sehen will, riesengroß. Die Wahrheit ist selten so eindeutig, wie sie zunächst scheint. Wie soll die Zerrissenheit unserer Gesellschaft überwunden werden? Wie soll die Gewalt, der die Menschen ausgesetzt waren, aus den Köpfen verschwinden?«83
2.1 Zwischen Verheißung und Zumutung – Aspekte einer widersprüchlichen justiziellen Herausforderung
Ende 2002 hätte es in Ruanda wohl nur sehr wenige gegeben, die vom Internationalen Strafgerichtshof in Arusha eine effektive Hilfe für die innere Entwicklung des Landes erwartet hätten. Die meisten hätten ohne zu zögern dem abfälligen Pauschalurteil von Célestin G. zugestimmt. Dass die offizielle Politik des Landes dem Gerichtshof mit unverhohlener Ablehnung begegnete, hatten schon der Besuch im Gefängnis von Nyankenke und der dort vorgeführte Film gezeigt. Das vergleichsweise komfortable Leben der Angeklagten im Gefängnis des Gerichtshofs und dessen Desinteresse für die Opfer der Verbrechen, die er ahnden soll – beides mehrfach plakativ herausgestellt –, legitimierten im Nachhinein, so die Botschaft des Films, die ruandische Gegenstimme bei der Entscheidung des Sicherheitsrats über die Einsetzung des Gerichts.
»Arusha«, wie der Internationale Gerichtshof in Ruanda oft in verächtlicher Kürze genannt wurde, war keine Einrichtung, an die sich Hoffnungen knüpften. Sogar zu behaupten, dass der Gerichtshof schon in den ersten Jahren seines Bestehens von den Ruandern, ob Hutu oder Tutsi, nicht nur als Enttäuschung, sondern als Zumutung empfunden wurde und die politische Führung in ihm entweder eine souveränitätsfeindliche Bevormundung oder eine arrogante Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ruandas sah, wäre sicherlich keine Übertreibung.84 Als das Gegenstück zum Gericht wurde Gacaca präsentiert, die ruandische, der Tradition verhaftete Antwort auf die angeblich seelenlose internationale Justiz, die nicht mehr als nur das Hintergrundszenario für ein einzigartiges Versöhnungsunternehmen darstelle und hauptsächlich dazu geeignet sei, den Völkermord in der außerruandischen Welt nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Diese skeptische bis rundweg ablehnende Reaktion auf die Tätigkeit des Gerichts kann als bruchlose Fortsetzung der Kritik an seiner Einsetzung gelesen werden. Nicht nur auf das Jahr 1994, sondern auf die gesamte Kriegsdauer, also vom 1. Oktober 1990 bis zum 4. Juli 1994, müsse sich die zeitliche Kompetenz des Gerichts erstrecken, hatte seinerzeit Manzi Bakuramutsa, der Vertreter Ruandas im UN-Sicherheitsrat, gefordert. Schon zu Beginn des Krieges habe es Massaker an der Tutsi-Bevölkerung gegeben. 8000 Tutsi seien Anfang Oktober 1990 willkürlich inhaftiert, Hunderte von ihnen umgebracht worden. Immer wieder sei es danach zu Massenmorden an Tutsi gekommen, die in einzelnen Fällen 300, einmal sogar mehr als 400 Opfer gefordert hätten. Die »Endlösung nach ruandischer Art« sei der internationalen Gemeinschaft nicht verborgen geblieben, viele Diplomaten und internationale Organisationen seien im Land gewesen. Ein Gericht aber, das die Vorgeschichte des Völkermords ausblende und die vorherigen »Experimente« in Form einer ganzen Reihe von Massakern nicht zur Kenntnis nehme, sei für Ruanda völlig nutzlos. Es werde die Kultur der Straflosigkeit nicht beenden und in keiner Weise zur Versöhnung beitragen.85 Auf derselben Linie des Desinteresses liege die Konzeption des Gerichts als bloßes Anhängsel des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, hatte der ruandische Delegierte noch hinzugefügt. Es seien nur zwei Strafkammern mit je drei Richtern vorgesehen, die fünfköpfige Berufungskammer müsse sich das Gericht mit dem Jugoslawien-Tribunal teilen, und das gelte auch für den Leiter der Anklagebehörde. Dessen Aufgabenbereich werde einfach nur um Ruanda erweitert.86 Und schließlich: Abgesehen davon, dass das Gericht nicht in Ruanda, dem Schauplatz der Verbrechen, seinen Sitz haben, und es nicht einmal mit ruandischen Richtern, die sich in der Geschichte und Kultur des Landes auskennen, besetzt werden solle, sei es ein Affront für die Opfer, dass das Gericht nicht die Todesstrafe verhängen dürfe. Nach ruandischem Strafrecht sei für Mord die Todesstrafe vorgesehen, doch das internationale Gericht könne als Höchststrafe lediglich eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängen. Planer und Organisatoren des Völkermords bekämen also eine geringere Strafe als die kleinen Täter, die sich vor ruandischen Gerichten zu verantworten hätten. Das würde dem Grundgedanken der Versöhnung in Ruanda zuwiderlaufen.87
Die Kritik des ruandischen Delegierten blieb bekanntlich ohne Wirkung. Folglich stimmte Ruanda gegen das Gericht, das in zeitlicher Hinsicht nur für das Jahr des Völkermords, vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Dezember 1994, zuständig sein sollte, das im Ausland, im tansanischen Arusha tagte, das keine ruandischen Richter hatte und das die Todesstrafe nicht verhängen durfte. »Seit 30 Jahren«, erklärte in diesem Zusammenhang der Delegierte Neuseelands im UN-Sicherheitsrat, »bemüht sich die UNO um die Abschaffung der Todesstrafe, und es wäre ein großer Rückschritt, würden wir sie jetzt in das Gerichtsstatut aufnehmen.«88 Die einzige Konzession, die die UNO Ruanda machte, sollte die Schaffung einer eigenen Anklagebehörde sein. Das geschah jedoch erst gut neun Jahre später, im September 2003, und unter Umständen, die die Verflechtung von Recht und Politik schlaglichtartig demonstrierten. Bis dahin gab es ein internationales Gericht, das sich mit großer Sympathie mit Ruanda beschäftigte, von diesem aber mit äußerstem Argwohn beobachtet wurde.
Korruption, Vetternwirtschaft, Inkompetenz und Missmanagement lauteten die Vorwürfe, die regelmäßig auf ruandischer Seite zu hören waren, wenn das Gespräch auf das Arusha-Tribunal kam. Gänzlich unbegründet waren sie keineswegs, wie UN-Berichte konstatieren mussten.89 Als die Gerichtsverhandlungen 1997 begannen, kamen vor allem dann, wenn es um den Anklagepunkt der Vergewaltigung ging, noch Vorwürfe hinzu, die den Richtern mangelnde Sensibilität und fehlendes Aufklärungsinteresse unterstellten.90
Das erste Urteil des Gerichts, zugleich das erste Urteil eines internationalen Gerichts wegen Völkermords überhaupt, wurde allerdings in Ruanda mit beinahe grimmiger Befriedigung aufgenommen.91 Endlich hatte das Gericht am 2. September 1998 das festgestellt, was in Ruanda jede und jeder wusste: dass es einen Völkermord gegeben hat, dass zu den zahlreichen Abscheulichkeiten, die ihn möglich gemacht hatten, das Verbrechen der Vergewaltigung gehörte und dass der Völkermord auch hochrangige Täter hatte СКАЧАТЬ