Der Engel, der seine Flügel verbrannte. Markus Saxer
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Название: Der Engel, der seine Flügel verbrannte

Автор: Markus Saxer

Издательство: Автор

Жанр: Публицистика: прочее

Серия:

isbn: 9783961450831

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СКАЧАТЬ Theater vorgespielt. Der Maskenmann bin ich. Und ich heiße nicht Chloé.« Sie zieht die blutige Maske ihres toten Mannes an und baut sich bedrohlich vor ihrer Rivalin auf − wie eine Rachegöttin.

      Sarah steht unter Schock, ihre Körperhaltung ist die des Kaninchens vor der Schlange: »Du bist komplett irre. Was machst du jetzt mit mir?« Sie betastet ihre blutende Lippe und fixiert ihre Widersacherin voller Abscheu, während ihr Tränen über die Wangen laufen.

      »Vielleicht auch erschießen?« Serges Frau kratzt sich nachdenklich am Nacken. »Nein, ich rufe wohl besser die Polizei. Auf der Waffe befinden sich ja ausschließlich deine Fingerabdrücke.« Sie betrachtet ihre Hände, die in transparenten Latexhandschuhen stecken, was Sarah bisher nicht aufgefallen ist, und tippt sich mit dem Zeigefinger ein paar Mal nachdenklich an den Maskenmund. »Hm. Es gäbe da vielleicht eine Alternative zum Gefängnis …« Sie entsichert die Pistole. »Einen erweiterten Suizid zum Beispiel. Man wird denken, du bist deinem Geliebten in den Tod gefolgt, weil er sich trotz seiner Beteuerungen partout nicht von seiner Frau scheiden lassen wollte.«

      »Das könnte dir so passen.« Sarahs Stimme klingt schrill. Abwehrend erhebt sie ihre Hand.

      »Übrigens, viele Selbstmörder scheitern, weil sie sich Schläfenschüsse verpassen, die eine recht hohe Überlebensquote garantieren, doch meistens wird man dann zum Pflegefall. Manch einem fehlt danach bloß ein Stück Hirnschale oder ein Auge, aber er überlebt und ist gaga bis an sein Lebensende. Wenn du also auf Nummer sicher gehen willst, Schätzchen, dann steck dir den Lauf in den Mund und umschließ ihn mit den Lippen, bevor du abdrückst.« Behutsam legt sie die Waffe neben sich auf den Boden. »Ich mache mir nicht die Finger an dir schmutzig. Du kannst entweder hier verhungern oder dich selbst richten, ganz wie du möchtest.« Mit diesen Worten lässt sie ihre Rivalin mit der Leiche und der Waffe allein, verriegelt die Tür von außen und betrachtet Sarah einen Moment lang durch die Glasscheibe. Sie sieht, wie diese sich zitternd über Serge beugt und weint. Dann schleicht die Frau sich in den benachbarten Keller, kauert sich vor das Loch in der Wand und späht vorsichtig hinüber. Als der Schuss fällt, zuckt sie mit keiner Wimper, wartet nur ab. Nach einer Weile glimmt ein Funken der Erheiterung in ihren Augen. Sie erhebt sich und geht wieder in den anderen Keller.

      Sarah liegt reglos neben Serge, die Waffe in der Hand. Ihre rechte Gesichtshälfte ist voller Blut. Plötzlich richtet sie sich auf, zielt mit der Waffe auf die andere und drückt ab.

      »Klick«, sagt Serges Frau und geht mit einem triumphierenden Lächeln in die Hocke. »Du bist einerseits clever, Sarah, andererseits aber auch sehr dumm. Clever, weil du versucht hast, das Kellerschloss aufzuschießen, und als es nicht klappte, Serges Blut an dein Gesicht geschmiert hast und dich so lange totstellen wolltest, bis ich wiederkomme und du mich töten kannst. Dumm deshalb, weil du nicht bedacht hast, dass sich nur zwei Patronen in der Waffe befinden könnten. Du hättest dich besser selbst erschossen.« Hasserfüllt sieht sie Sarah an und knallt ihr die Faust ins Gesicht. Als ihr Opfer bereits am Boden liegt, prügelt sie weiter auf sie ein, bis sich nichts mehr unter ihr regt. Danach holt sie ein Seil von nebenan und sinniert darüber, wie lange Sarah wohl überleben wird, ohne Wasser, ohne Nahrung, stets den immer penetranter werdenden Leichengeruch in der Nase, während sie unlösbar an den eiskalten und starren Körper ihres Geliebten gefesselt ist.

       Herbst des Schreckens

      Wie ein zweiter Umhang hatten sich Finsternis und der Londoner Nebel um die Gestalt gehüllt, die sich in der Hanbury Street Annie Chapman von vorn näherte. Im schwarzen Mantel und schwarzem Rock stand sich Dark Annie, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, bereits die halbe Nacht lang die Beine in den Leib und wartete auf Freier. Bisher leider vergeblich. Ab und zu trank die kleine, korpulente Frau einen Schluck Schnaps, um die Kälte zu vertreiben. Zuerst erschrak sie, als sich die Gestalt vor ihr aus dem Nebel schälte, doch als sie deren Gesicht erkannte, lächelte sie, versprach sie sich doch ein wenig Abwechslung und Konversation − und vielleicht ein paar Pence-Münzen für ein Bett in der Notunterkunft. »Na, wieder die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, was?«, fragte Dark Annie zur Begrüßung.

      Die Gestalt nickte. »Ja, es gab wieder sehr viel zu tun.«

      Als Annie der Gestalt die Schnapsflasche reichte, schüttelte diese den Kopf. Annie zuckte mit den Achseln und nahm einen tiefen Schluck.

      »Und wie läuft's bei dir?«, erkundigte sich die Gestalt, stellte ihren kleinen Koffer ab und legte der Frau die Hand auf die Schulter.

      »Nicht viel los heute. Die Kerle haben erst nächste Woche Zahltag, und wenn sie nicht gleich alles versaufen, bleibt vielleicht noch was für uns Dirnen übrig.« Annie lehnte ihren Kopf an die Schulter der Gestalt, sah und roch das Blut auf deren Kleidung. »Aber wie wär's mit uns beiden? Was meinst du?« Ihre Stimme klang wie ein Gurren.

      Die Gestalt lächelte nachsichtig. »Das fragst du mich nicht zum ersten Mal. Du weißt, dass ich sowas nicht mache.«

      »Nun, einen Versuch war's wert.«

      Wiederum ein Lächeln. »Komm, Annie, ich möchte dir was zeigen.« Die Gestalt klopfte vielsagend auf ihren Koffer und begab sich stracks in den nahen Innenhof, gefolgt von der neugierig gewordenen Dirne in ihren hohen, geschnürten Stiefeln. Als die Frau im schwachen Schein einer Laterne aus der Flasche trank, drehte sich die Gestalt wortlos zu ihr um und bohrte ihr die Daumen in den Hals. Dark Annie brachte nur noch ein Röcheln hervor. Die Flasche fiel ihr aus der Hand und zersplitterte auf dem Boden. Die Gestalt drückte noch fester zu, erwürgte die Hure fast und zwang sie auf den Boden. Dann kniete sie sich neben ihrem Opfer nieder, holte ein Messer aus dem Koffer hervor und schnitt Dark Annie mit kräftigen Schnitten die Kehle durch, so tief, dass sie ihr fast den Kopf abtrennte. Mit dem Messer in der Hand, von dessen Klinge Blut triefte, blickte sich die Gestalt um. Keine Zeugen in Sicht. Ausgezeichnet. Nun beugte sie sich vor und schlug Annie die Röcke hoch, um ihren Unterleib zu entblößen und sich an ihm mit dem Messer zu vergehen. Wie stets, wenn die Gestalt in Raserei und Blutrausch geriet, atmete sie in tiefen, schnellen Zügen, während ihre Hände ohne zu zittern ihr grausiges Werk fortführten und Haut wegschnitten, Organe und Gewebe hervorzerrten und über Annies Oberkörper drapierten. Als sie die Gebärmutter entfernt und im Koffer verstaut hatte, hörte die Gestalt das Geräusch einer sich öffnenden Tür. Sie stieß einen Fluch aus, stand auf und entfernte sich rasch mit ihrem Koffer. Augenblicke später hatte der Nebel sie verschluckt.

      Als John Davis an jenem feucht-kalten Septembermorgen aus der Tür seiner Unterkunft trat, gähnte und mit tief in die Stirn gezogener Schiebermütze die Treppenstufen herabstieg, war die Dunkelheit, die ihn umgab, fast undurchdringlich. Die wenigen Straßenlaternen vermochten den schmalen Hof hinter dem Haus nicht wirklich zu erhellen. Der betagte Dienstmann hatte schlecht geschlafen. Während er mit hochgeschlagenem Mantelkragen müde und fröstelnd einen Fuß vor den anderen setzte, spürte er, dass an diesem Morgen etwas nicht stimmte. Die menschliche Art hat sich genug Instinkte bewahrt, um die Anwesenheit von Bösem zu spüren. Irgendetwas in seinem Inneren flüsterte Davis zu, sich in Acht zu nehmen. Aber wovor? Obschon es zu jeder Tages- und Nachtzeit im ganzen East End nach Schlachthaus und Kanalisation stank, glaubte er, noch einen anderen Geruch wahrzunehmen, der ihm Angst einjagte, da er von einem verletzten Tier oder einem Menschen herrühren musste: den Gestank von Blut und Exkrementen. Mit geballten Fäusten näherte er sich vorsichtig der Quelle dieses Geruchs. Der jähe Anblick einer verstümmelten Frauenleiche, die mit gebrochenen Augen vor ihm erschien, raubte ihm den Atem. Schockiert starrte er auf sie herab, wie sie mit gespreizten Beinen einer Gebärenden gleich auf den Steinplatten lag, den linken Arm auf der linken Brust. »Hilfe!«, krächzte er tonlos. »Mord …« Von Übelkeit überwältigt sackte der alte Davis in die Knie und übergab sich.

      Die Gestalt stellte den Krug mit dem heißen, gebutterten Bier ab, mit dem sie sich nach der langen, aufreibenden Nacht stärkte. Die СКАЧАТЬ