Название: Der Engel, der seine Flügel verbrannte
Автор: Markus Saxer
Издательство: Автор
Жанр: Публицистика: прочее
isbn: 9783961450831
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Im Erwachsenenalter lebten die Yin-Yang-Zwillinge weiterhin gemeinsam im Haus ihrer längst verstorbenen Eltern. Zwar hassten sie sich mittlerweile bis aufs Blut, doch brauchten sie einander auch, so wie das Licht den Schatten. Ihr Farbfetischismus hatte inzwischen schon fast krankhafte Ausmaße angenommen, sodass sie sämtliche Freunde, Verwandte und auch die heiratslustigen Männer vergraulten und gezwungenermaßen ein einsames, zurückgezogenes Dasein fristeten. Ihr einziger Hausgenosse war Rosalies Kater Barbarossa, den Bianca aber wegen seines kupferroten Fells verabscheute.
Einmal, als Rosalie an einem Wintertag ihre roten Lederstiefel vor dem Haus anziehen wollte, waren diese bis zum Rand mit Schnee gefüllt. Maliziös lächelnd beobachtete Bianca durchs Küchenfenster hindurch, wie ihre Schwester fluchend den Schnee aus den Stiefeln schüttelte und den Rest mit den Fingern herauskratzte. Als sie aus der offenen Milchtüte trank, hatte sie plötzlich Ketchup im Mund. Sie eilte zur Spüle und spuckte angewidert aus.
Bianca hockte mit hochgezogenem Fuß auf dem Toilettensitz und lackierte sich die Zehennägel weiß, als Rosalie mit ihrer exzentrischen roten Brille à la Elton John den Kopf durch den Türspalt steckte und genervt ein weißes Halstuch ins Badezimmer schmiss. »Was hat dieses Ding auf meiner roten Bettdecke verloren?«
»Keine Ahnung«, meinte Bianca und wackelte mit den Zehen.
»Untersteh dich bloß.« Mit einem Kopfschütteln verschwand Rosalie, und an ihrer Stelle spazierte Barbarossa ins Bad und beschnüffelte das Tuch.
Bianca hatte sich inzwischen den anderen Fuß vorgenommen und beobachtete den Kater argwöhnisch. »Hau ab!«, zischte sie und drohte ihm mit dem erhobenen Lackpinsel.
Der Kater hob den Kopf und fauchte sie an. Dann zitterte er mit dem Schwanz, und ehe Bianca reagieren konnte, markierte er auf ihren Schal und rannte davon.
»Eines Tages krieg ich dich, du rolliger Bastard!«, rief Bianca ihm hinterher. »Pfui Teufel, stinkt das!«
»Was hast du eben gesagt?« Rosalie war zurückgekehrt und schob sich ihre Brille auf die Stirn hoch. Auf ihrer Stirn erschien eine senkrechte Falte.
»Lass das blöde Vieh endlich kastrieren.«
»Kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram.«
So zog sich der Kleinkrieg noch eine Weile hin, bis eines Tages Barbarossa auf dem Feld eine vergiftete, sich im Todeskampf windende Maus erwischte und auffraß. Nicht lange nachdem er ins Haus zurückgekehrt war, zitterte er plötzlich unter Krämpfen und seine Augen quollen hervor. Als Rosalie ihre Katze in diesem jämmerlichen Zustand erblickte, kniete sie sich neben sie und streichelte sanft ihren Kopf. »Was hast du, mein Süßer?« Als der Kater zu würgen anfing und sich übergeben musste, rief sie in scharfem Ton nach ihrer Schwester.
»Was ist los?«, fragte Bianca, die mit verschränkten Armen gemächlich die Treppe herunterstieg. »Igitt, der kotzt ja wie ein Reiher!«
»Danke für dein Mitgefühl.« Rosalie schoss einen giftigen Blick auf Bianca ab. »Es geht ihm gar nicht gut.«
Achselzuckend und mit distanziertem Interesse musterte Bianca die Katze. »Dann bring ihn zum Tierarzt.«
»Vorhin krampfte er, als wäre er vergiftet worden.« Der versteckte Vorwurf in Rosalies Stimme war unüberhörbar.
»Und was hat das mit mir zu tun?«
Rosalie verbiss sich eine Antwort und beeilte sich, den Katzentransport-Käfig aus dem Keller zu holen. Dann wickelte sie ihren Kater in ein Frottiertuch und legte ihn in den Käfig. »Mach wenigstens sauber hier!«, ermahnte sie Bianca, als sie mit dem kranken Tier das Haus verließ.
Nachdem der Tierarzt Barbarossa von seinem Leiden erlöst hatte, kehrte Rosalie mit verweinten Augen nach Hause zurück. Als sie im Korridor den leeren Tiertransportbehälter abstellte, hört sie Biancas Singsang aus dem Bad: »Gestern rot und heute tot. Ich vermiss dich nie, du garstig Vieh …«
Na warte, Katzenmörderin du!
Rosalie schnappte sich das Tranchiermesser aus der Küche und ging geduckt in Richtung Badezimmer. Durch den weißen Duschvorhang erblickte sie die Silhouette ihrer verhassten Schwester, wie sie sich den Schaum vom Körper abbrauste. »Diesem scheißweißen Badezimmer fehlen einfach ein paar rote Akzente«, murmelte sie vor sich hin, und ihre Hand mit dem Messer schnellte vor. Die Klinge durchstieß den weißen Vorhang und bohrte sich in den Körper ihrer Schwester.
Bianca schnappte nach Luft, die Duschbrause fiel ihr aus der Hand und polterte in die Wanne. »Rot…«, stammelte sie fassungslos, stöhnte, und sackte zusammen.
Die Maske des Entführers
Von völliger Finsternis umgeben kommt Sarah zu sich. Benommen hebt sie den Kopf, ein Schmerz durchzuckt sie, als ob ein Hammer gegen die Hirnschale schlagen und jemand gleichzeitig ihre Sehnerven durchschneiden würde. Die blonden Haarsträhnen kleben ihr an der verschwitzten Stirn. Stöhnend versucht sie sich in der Realität wiederzufinden, hört ihr Herz klopfen, ertastet mit den Fingerspitzen eine Matratze. Bruchstückhaft erinnert sie sich daran, wie sie in der schummrigen Tiefgarage nach dem Fitnesstraining ihre Sachen in den Kofferraum ihres Wagens lud, als sie … hinterrücks niedergeschlagen wurde? Sie bemüht sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Hier drin stinkt es erbärmlich. Kellermoder und Mief. Hat man mich entführt? Warum? Lösegeld kann keine Rolle spielen, ich komme aus einfachen Verhältnissen. Was dann?
Die Alternative zum Lösegeld bringt ihr Herz zum Rasen. Das Schlimmste aber ist, dass sie in den nächsten zehn Tagen niemand vermissen wird, da sie heute offiziell im Flieger nach Mauritius sitzt. Niemand weiß, wo sie sich dort genau aufhalten wird, nicht einmal ihr verheirateter Lover Serge, der momentan an einem mehrtägigen IT-Administrator-Training teilnimmt.
Scheiße verfluchte!
Sarah hat nicht die Kraft aufzustehen, ihr ist so schwindelig, und doch erkennt sie vor sich die schwach erhellten Umrisse einer Tür. Sie versucht, sich auf die in der Mitte leuchtende kleine Glasscheibe zu konzentrieren. Eisige Panik greift nach ihr, als eine weiße Vollmaske dahinter auftaucht. Minutenlang wird sie stumm beobachtet, ehe die Maske weggleitet. Das Licht hinter der Tür brennt weiter und macht Sarah, der alle Farbe aus dem Gesicht gewichen ist, die bedrückende Enge ihres Kellerverlieses nur allzu bewusst.
Nach einer Weile hört sie eine Flüsterstimme: »Hallo? Wie heißt du?«
Sarah rappelt sich hoch, merkt, dass sie ihre Sneakers nicht mehr anhat, und lauscht gebannt.
»Komm rüber zur Wand. Komm …«
Vorsichtig bewegt sich Sarah im Dunkeln auf die Stelle zu, von der sie die Stimme vermutet. Dort ertastet sie ein Loch in der Betonwand, etwas größer als ein Bierdeckel. »Wer ist da?«
»Ich bin Chloé. Und du?«
»Sarah … Wurdest du gekidnappt?«
»Ja.« Ein Schniefen.
»Wie …«, stockend holt Sarah Luft. »Wie lange bist du schon hier?«
»Weiß nicht. Seit Tagen? Oder Wochen?« Chloés Stimme klingt rau.
Sarah СКАЧАТЬ