Название: Der Engel, der seine Flügel verbrannte
Автор: Markus Saxer
Издательство: Автор
Жанр: Публицистика: прочее
isbn: 9783961450831
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Sogleich fing Deborah an krampfhaft zu beben, aber nicht wegen der Temperatur im Zimmer.
Das war nicht die Kälte. Das war Angst. Todesangst.
Helene Thalbach erblickte sie in ihren Augen, drehte ruckartig den Kopf herum und fuhr erschrocken zusammen.
Ein Knabe von morbider Schönheit mit kupferrotem Haar hatte lautlos das Zimmer betreten. Sein weißes Gewand war mit Blutflecken übersät, und an seinem Finger steckte der Rubinring, von dem Deborah ihr erzählte. Sie blickte in seine Haifischaugen, die schwarz und tot aussahen. Helene Thalbach würgte die Angst runter und überdachte fieberhaft ihre Situation. Auf einmal überkam sie eine kalte Wut auf dieses Scheusal, das Deborah Lehmann so zugerichtet hatte. »Na warte!« Resolut, zu allem entschlossen, trat sie auf den Jungen zu − er wich zurück − packte seine Hand mit dem Ring und drehte an dem geschliffenen Rubin. Ein kaum hörbares Klicken, als der Stein in der Fassung einrastete und der Dorn an der Innenseite des Reifs hervorschoss. Ohne eine Miene zu verziehen senkte der Junge den Kopf und sah zu, wie Blut von seiner beringten Hand auf seine bloßen Füße tropfte.
Nun war es Helene Thalbach die zurücktrat, denn sie sah, wie ein Glimmen in seine Augen sickerte und eine Ader an seinem Hals zitterte. Wie ein Hund, der sich in einen Knochen verbeißt, biss er sich selbst tief in den Arm, um sich gierig den Lebenssaft aus seinen Adern zu saugen. Er sank auf die Knie und gebärdete sich wie ein tollwütiges Tier, während ihm Blut von den Lippen troff.
Die Nachlassverwalterin spürte ihr Herz bis zum Hals klopfen. Hinter sich ertastete sie eine Holzlehne, drehte sich um, ergriff mit beiden Händen den Stuhl und schmetterte ihn mit aller Kraft auf den Schädel des Jungen, was ein hässliches Geräusch von berstenden Knochen zur Folge hatte. Endlich sackte der Getroffene zusammen und rührte sich nicht mehr.
Der Atem von Helene Thalbach ging stoßweise. Erschöpft ließ sie den Stuhl fallen und wandte sich Deborah zu. Doch deren Mund stand offen, ihre Augen waren gebrochen und leer an die Decke gerichtet.
Das menschliche Cello
Die Musikerin sitzt in schwarzer Corsage auf dem Stuhl, das Violoncello zwischen den Schenkeln. Ihre Finger zittern am Hals des Instruments. Strähnen fließen silbern durch die Flut ihres Haares und locken sich dunkel vor ihrem Bauch. Sie streicht das Cello. Wieder und wieder gleitet der Bogen über die Saiten. Die Musik weitet das Zimmer zu einer Kathedrale. Die Augen der Cellistin ruhen auf der jungen Frau, die ihr nackt und mit verbundenen Augen gegenübersitzt. Weich schweben die Töne durch den Raum, legen sich nieder auf dem Piano in der Ecke, den schweren Samtvorhängen und dem Kirschholzboden. An der Haut des Mädchens perlen sie ab wie Schmelzwasser und hinterlassen ein heißes Sehnen. Mit leicht geöffnetem Mund sinkt ihr Kopf in den Nacken; feine Schweißperlen wie poliertes Glas zieren ihre Oberlippe. Die Abendsonne spielt auf den schummrigen Wänden. Eine vorüberziehende Wolke blickt kurz in das Zimmer, ehe der Wind sie aus dem Schoß des Abends treibt. Ein Lufthauch, warm wie der Atem eines Tieres, strömt durch das offene Fenster ins Zimmer und streichelt die Frauen.
Eine alterslose, porzellangesichtige Japanerin tippelt im schwarzen Tai-Chi-Anzug herein, das graue Haar zum Knoten gesteckt, der von zwei langen, gekreuzten Holznadeln gehalten wird. Sie bringt einen Pinsel mit und chinesische Tusche. Auf das Kopfnicken der Cellistin hin zieht sie das Mädchen behutsam vom Stuhl und fordert von ihr mit hypnotischer Stimme, vor der Musikerin niederzuknien und ihr die Stiefel zu küssen.
Die Kleine tut, wie ihr befohlen.
Die Japanerin setzt sich neben sie auf den Stuhl und malt dem Mädchen mit der Präzision einer Kalligraphin zwei Schallöffnungen auf den schmalen, nach vorn gebeugten Rücken, die in Größe und Form exakt denen des Cellos entsprechen.
Das Flüstern der Musik macht Platz für den Gesang der Zikaden. Die Realität beginnt, ihre Blätter einzurollen.
Die Cellistin gibt der Asiatin einen Wink. Diese verbeugt sich, schiebt den Stuhl in den Winkel und entfernt sich, den Kopf wie im Gebet gesenkt.
Hinter dem Rücken des Mädchens lehnt ein mannshoher Barockspiegel an der Wand. Die Musikerin betrachtet darin von oben bis unten das Abbild der jungen Frau, die devot vor ihr auf dem Boden kniet: blondes Haar, das im Nacken zu einer Spitze ausläuft; Schulterblätter, gefalteten Flügeln gleich; ein vollendet symmetrisch geformtes Gesäß, das auf den Fersen ruht. Die Cellistin legt ihr Instrument fort und rückt mit dem Stuhl ganz dicht an das Mädchen heran, saugt ihr einen leichten Biss auf den Hals, dass der Kleinen die Röte ins Gesicht schießt. Die Zunge der Cellistin gleitet in ihren Mund und presst sich weich gegen die ihre. Mit der Linken packt sie den schmalen Nacken und hält ihn gefangen, die Rechte tastet nach dem Cello-Bogen. Als die Lippen sich voneinander lösen, beobachtet sie sich selbst im Spiegel. Mit wachsender Erregung streicht sie die gespannten Pferdehaarsaiten mehrmals hintereinander über den Rücken des Mädchens, das erzittert und wimmert und sich auf die Lippen beißt, um nicht zu schreien. Die Finger der Cellistin graben sich in den Hals der anderen. Süßer Schmerz fährt durch deren Körper und gebiert flüssige Perlen, die unterhalb der Augenbinde an ihren Wangen hinunterlaufen.
Mit Entzücken gewahrt die Musikerin die Striemen auf dem Rücken des Mädchens. Langsam fährt sie ihr mit der Stiefelspitze in der Loipe des Rückgrats bis zum Steißbein hinab. Eine Welle der Begierde durchfährt sie dabei: ihre Schenkel zittern, ihr Gesicht verzerrt sich vor Lust, und der Brunnen in ihrem Schoß läuft über.
Als die Nacht hereinbricht, klatscht die Musikerin ein paar Mal in die Hände. Ihr schönes Gesicht leuchtet vor Befriedigung. Der besessene Glanz in ihren Augen ist etwas gewichen, der teuflische Zug um ihre kleinen, vollen Lippen jedoch ist geblieben.
Abermals betritt die Japanerin den Raum: sie schiebt einen schwarzen Cello-Koffer vor sich her. Sie legt ihn neben dem Mädchen auf den Boden und klappt ihn auf. Sie nimmt das Mädchen bei der Hand und führt es, bis es sich aus freien Stücken wie ein Embryo in die mit schwarzem Samt ausgelegte Schale hineinschmiegt. Daraufhin wird der Koffer zugeklappt und die Schnallen werden geschlossen. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte stellt die Japanerin den Koffer auf und rollt ihn ins Musikzimmer nebenan, wo sich bereits identische Koffer befinden, in denen menschliche Cellos stumm verharren.
Die grotesken Schwestern
Bianca und Rosalie gehörten zu der Kategorie Zwillinge, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, sodass eigentlich nur ihre Mutter sie zuverlässig unterscheiden konnte. Dass sie die genau gleichen Frisuren trugen, machte die Sache auch nicht einfacher. Oft machten sie sich einen Spaß daraus ihre Umwelt zu verwirren, indem sie ihre Identitäten tauschten. Sehr zum Leidwesen ihres Vaters: »Bianca, hilf doch bitte mal deiner Mutter beim Abwasch.«
»Papa, ich bin die Rosalie!«, sagte Bianca scheinbar entrüstet und verdrehte die Welpenaugen. »Ich hab schon den Tisch abgeräumt, soll Bianca helfen.«
Ihr Vater musterte mit erhobenen Händen hilflos seine Frau, die still in sich hineinlächelte und einen raschen Blick mit Rosalie tauschte, die sich grinsend aus dem Staub machte. Da mit der Zeit die Streiche der Mädchen jedoch an Dreistigkeit zunahmen, beschlossen die Eltern − nomen est omen − Bianca fortan ganz in Weiß, Rosalie dagegen in Rot zu kleiden, damit nun wirklich jeder sah, mit welchem der Zwillinge er es zu tun hatte. Den Kindern verbot man die Kleider zu tauschen, und damit sie sich daran hielten, machten ihnen die Eltern kleine Geschenke für gute Schulnoten oder die Mithilfe im Haushalt: So bekam Bianca eine weiße Haarschleife oder eine weiße Muschel, während Rosalie im Gegenzug mit einem roten Wasserball oder einem Körbchen Erdbeeren belohnt wurde. Allmählich entwickelte jede ein Faible СКАЧАТЬ