Stein mit Hörnern. Liselotte Welskopf-Henrich
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Название: Stein mit Hörnern

Автор: Liselotte Welskopf-Henrich

Издательство: Автор

Жанр: Исторические приключения

Серия:

isbn: 9783938305645

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СКАЧАТЬ Er hatte Zeit. Aber irgendwann und irgendwie wollte er zu einer Schriftprobe dieses verdächtigen Indianers kommen.

      Er hatte einen Einfall.

      Eines Morgens wandte er sich an Mrs Crazy Eagle und erkundigte sich, ob sie ihm von irgendwoher, auf irgendeinem Wege eine Schriftprobe des Patienten King bringen könne, der durch sein undurchsichtiges Verhalten der Behandlung Schwierigkeiten mache. Schriften gäben Aufschluss über Charaktereigenschaften, es sei viel davon zu halten.

      Der Wunsch wurde erfüllt. Ein gewisser Russell, Verkäufer von Wildwestzubehör in New City, stellte einen Brief über eine Viehverkaufsangelegenheit zur Verfügung. Es war auf den ersten Blick klar, dass die Schrift des Linkshänders Joe King mit derjenigen auf dem Zettel nicht identisch sein konnte.

      Also kam King nur als ein Zwischenträger in Frage. Einmal würde ihm das Simulieren wohl leid werden. Dann wollte Sligh ihn fragen, wie er zu dem Namen und der Adresse gekommen war und warum er das Papier verschluckt hatte. Der Bursche war zu einer unerhörten Konsequenz in seinem Verhalten fähig. Insofern schien er gefährlich.

      Sligh zog da und dort Erkundigungen ein. Joe King, auch genannt Stonehorn, wurde als Nachkomme einer heruntergekommenen, aber um so arroganteren Häuptlingsfamilie und Schüler eines Medizinmannes geschildert, als ein aufsässiger Charakter, verwegen und geneigt, stets Aufsehen zu erregen; dabei hielt er sich selbst im Dunkeln und blieb undurchsichtig. Er war vor Jahren aus Hass auf Verwaltung und Gericht ein Gangster geworden. Später hatte er versucht, sich von den Gangs loszusagen. Aber aus einer Gang wieder herauszukommen galt allgemein als ein hoffnungsloses Unterfangen. Es hatte Tumulte und Schießereien gegeben. King war zu aller Erstaunen auf die Reservation zurückgekehrt, hatte eine schöne junge Indianerin geheiratet und war ein erfolgreicher Rancher und Rodeo-Sieger geworden. Er hatte Feinde und Verächter, Anhänger und Bewunderer. Die Urteile über ihn unterschieden sich wie Schwarz und Weiß. Es erschien nicht unmöglich, dass ein solcher Mensch noch Verbindungen zu einem Erpresser aufrechterhielt oder von neuem angeknüpft hatte.

      Sligh gab den Scheck zur Bank und schlief wieder schlecht.

      Er konnte den Burschen einfach sterben lassen. Aber das widerstrebte ihm. Er war Arzt. Nur keine neue Affäre.

      Eine Krise im eigentlichen Sinne brach in dem labil gewordenen Gemütszustand von Roger Sligh, M. D., erst zwei Wochen später an einem hellen Novembervormittag aus. Er machte als Chefarzt seine Visite bei dem Patienten, der noch isoliert lag.

      Joe King hatte die Augen offen. Bis dahin hatte er sie stets nur zu schmalen Schlitzen geöffnet. An diesem Morgen aber sah er dem Arzt entgegen, mit vollem, den anderen festhaltendem Blick. Die Augen waren groß, im Dunkel eine für Sligh fremdartige Trauer, das Leuchten schwer zu ergründen, da es aus einer nicht mit Instrumenten auszulotenden Tiefe kam. Der Blick war unerklärlich. Sligh fühlte sich einen Augenblick versucht, den Indianer für geisteskrank erklären zu lassen. Dann konnten etwaige Aussagen dieses Burschen nie Gewicht gewinnen.

      Es war ein überhasteter, aus einer irrationalen Angst geborener Gedanke. Sligh streifte ihn ab, ordnete eine weitere Röntgenaufnahme an und legte das Resultat dahin aus, dass er für den Patienten Antrag auf Aufnahme in eine erstklassige orthopädische Spezialheilstätte stellen werde. Diese Entscheidung erschien ebenso medizinisch einwandfrei wie gewissenberuhigend, nervenberuhigend.

      Mrs King, die ihren Mann regelmäßig besucht hatte, ließ sich bei dem Chefarzt anmelden.

      Roger Sligh entzog sich der Sprechstunde, in der er die junge Frau hätte empfangen müssen, und schob seinen Assistenzarzt Landis vor. Landis versicherte Mrs King wahrheits- und auftragsgemäß, dass die Spezialklinik außerhalb der Reservation die relativ beste Aussicht auf wirkliche Heilung verbürge. Mrs King unterschrieb ohne weiteres Wort die finanziellen Verpflichtungen, die sich daraus ergaben. Sligh machte keine Visite mehr bei Joe King. Er überließ den Patienten der Verantwortung seines Assistenten.

      Des Nachts im Traum aber wurde der Arzt von den Augen verfolgt.

      Augen eines Wahnsinnigen?

      Augen eines Rauschgiftsüchtigen?

      Augen eines urwüchsigen Hypnotiseurs?

      Augen eines gefährlichen Verbrechers?

      Woher kannte dieser Bursche den Erpresser?

      Roger Sligh studierte an vielen Abenden den Zettel mit seiner eigenen Adresse und dem Vermerk 8 000,-.

      Es gab keinen Zweifel, das war die Handschrift des Erpressers. Sligh kannte diese Handschrift aus eigenen eingehenden Studien. Wo lebte der Unbekannte jetzt? War er Sligh nachgekommen? Lohnte sich das für den Verbrecher? Sligh war reich, aber er war kein Milliardär. Warum verfolgte der Erpresser ihn? Konnten mäßige Summen allein die Ursache dieser Zähigkeit über hunderte von Meilen hinweg sein? Kannte Joe King Slighs Verfolger? Er musste ihn kennen. Wie war er sonst zu dem Adressenvermerk gekommen? Sligh würde den Indianer nicht aus den Augen verlieren. Mit dem Leiter der orthopädischen Klinik war der Arzt bekannt. Er konnte jederzeit die Verbindung zu einem von ihm operierten Patienten aufrechterhalten oder wiederherstellen, wenn er sie einmal unterbrochen hatte. Das würde niemanden wundernehmen. Im Gegenteil, es war üblich und von Sligh zu erwarten.

      Nachdem Joe King trotz aller Vorsorge bei dem Transport mit einem neuen gefährlichen Schaden in der Klinik Dr. Miller angekommen war, brauchte Roger Sligh die Augen des Indianers nicht mehr zu sehen. Er brauchte sie nicht mehr in natura zu sehen. Im Traum sah er sie noch immer. Es gab Geheimnisse, die nicht gelöst waren, kriminelle Schlingen, psychischen Dschungel. Roger Sligh hatte beschlossen, im Gegensatz zu Eivie zwischen Indianern und seiner eigenen Person eine Schicht bestehen zu lassen, unterkühlt und unberührbar wie flüssige Luft. Diese Schicht bestand. Sie hielt sich jetzt gegen den Willen des Chefarztes. Sie behinderte sein klares Erkennen. Roger Sligh, M. D., wurde rauher, als es einem Arzt konventionellerweise zukam. Sein Verhältnis zu den Angestellten des Hospitals verschlechterte sich, wenn auch nur leise, mit unmerklichen, unkontrollierbaren Schritten. Er suchte Anschluss an die wenigen Personen, mit denen zu verkehren ihm sein Dienstgrad gestattete: an den höchsten Verwaltungsbeamten der Reservation, den Superintendenten, an dessen Stellvertreter, an den Oberarzt der Entbindungs- und Säuglingsstation, der kurz nach Roger Sligh neu eingestellt worden war, auch an den Verwaltungsdirektor des Hospitals. Sie alle waren Weiße. Sligh wurde in das Haus des Superintendenten eingeladen. P. Hawley und seine Frau repräsentierten südliche, halbfeudale Kultur, ein relativ hohes Niveau literarischen und künstlerischen Verständnisses; in ihrer Privatbibliothek fanden sich Seltenheiten. Mr und Mrs Hawley fühlten sich in der nördlichen Prärie als Verbannte und fanden sich mit Sligh, M. D., zu Gesprächen über Reisen, Länder, Völker und auch über die von Sligh gern angeschnittenen psychiatrischen Probleme zusammen. Die Ablenkung, die Sligh dadurch fand, war unvollkommen; die Thematik lag dem Ausdruck jener Augen, die er vergessen wollte, zu nahe. Der stellvertretende Superintendent Nick Shaw war glatt poliertes Holz. Der Arzt konnte sich mit ihm und seiner kirchlich aktiven Frau unterhalten, ohne an das zu denken, wovon er plauderte. Der Verwaltungsdirektor Walker hatte keine anderen Interessen als Wagen und Whisky. Der Oberarzt der Entbindungsstation stand den Eingeborenen näher, als Sligh das zu bemerken liebte.

      Auf der Reservation gab es weder große Sportveranstaltungen noch Theater, noch Kino, noch Restaurants, noch Klubs, noch gute Läden; es gab keine Tennisplätze, kein Golf- und kein Pologelände, keine fischreichen Flüsse oder Seen und keinen Wassersport, keine Berge, keine Seilbahnen, keine Wälder, kein Jagdrevier. Die Angehörigen der Verwaltung und des Gesundheitsdienstes blieben in ihrer Freizeit in einer für Sligh doch schwer erträglichen Weise auf sich selbst und den Fernseher angewiesen. Die Reservation erschien als ein abgelegener, einsamer, unfruchtbarer, von einem primitiven Volk dünn besiedelter Fleck in einem Land größten industriellen Fortschritts. Man widmete sich СКАЧАТЬ