Название: Stein mit Hörnern
Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Жанр: Исторические приключения
isbn: 9783938305645
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Roger Sligh fuhr an einem Wochenende zu der Klinik und begrüßte seinen Patienten.
Sobald er ihn einen Augenblick ohne den Kollegen sprechen konnte, zeigte er ihm den Zettel.
Die schwarzen Augen, die den Arzt Roger Sligh bis dahin mit einem Ausdruck gleichgültiger Verschlossenheit angesehen hatten, verrieten auch jetzt nichts von dem unheimlichen Ausdruck, dessen sie fähig waren. Joe King las.
»Ihre Adresse und eine Zahl ohne Zusammenhang.«
»Woher kennen Sie meinen Namen und meine Adresse?«
»Doktor Miller hat mir ja soeben gesagt, wer Sie sind.«
»Erinnern Sie sich nicht, mich in Ihrem Heimathospital als Ihren Arzt gesehen zu haben?«
Der Patient lächelte verständnislos.
Sligh war mit seinem Überraschungsmanöver ins Leere gestoßen. Er steckte das Papier wieder ein.
Der Klinikchef kam zurück. »Ich hoffe, Sligh, dass wir einen vollen und einfach sensationellen Erfolg haben werden. Gesichert allerdings erst in etwa zwei Jahren.«
»Diesen vollen Erfolg glaubte ein Medizinmann in Kanada auch schon einmal gehabt zu haben, und sein Erfolg hat sogar ein Rodeo und den Ritt auf Bronc sattellos überdauert. Aber nicht eine Fahrt nach New City. Warten wir ab, ob ich ein besserer Medizinmann bin!«
Miller lächelte: »Das halte ich immerhin für möglich.«
Nach seiner Rückkehr auf die Reservation wartete Sligh von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht bewusst und unterbewusst darauf, dass der Erpresser wieder irgendein Zeichen seiner für Sligh bedrohlichen Existenz geben werde. Aber es kam weder einer der gefürchteten Briefe, noch fand der Arzt je eines der verhassten Zeichen auf der Schwelle oder im Zimmer auf dem Tisch.
Der Arzt gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, dass die Wolke über seiner Existenz sich verzogen habe. Er verdiente als Angestellter im Gesundheitsdienst nicht einen Bruchteil dessen, was er in den vergangenen Jahren eingenommen hatte, und es bestand für ihn auf der abgelegenen Reservation auch keine Möglichkeit, nebenbei eine Privatpraxis zu betreiben. Vielleicht hatte der Erpresser ihn aus solchen Erwägungen als Objekt aufgegeben. Oder der Erpresser lag doch, noch immer weitgehend bewegungsunfähig, in der hervorragenden orthopädischen Privatklinik und hatte seine Briefe jeweils durch einen andern schreiben lassen, zu dem er nun keine Verbindung mehr besaß. Wie er allerdings vorher als Rancher der Reservation je nach Slighs früherem Aufenthaltsort gekommen sein konnte, blieb auch ein Rätsel. Kings Tramp- und Gangsterzeit lag vor der Affäre und bot daher keine Erklärung.
Der Chefarzt Roger Sligh, M. D., Nachkomme von Mormonen, Gelehrten, Spekulanten und Farmern, der Sage nach auch eines Banditen, schüttelte erfolglose Gedanken ab und gliederte sich weiterhin in unauffälliger, glatter und ruhiger Weise in Dienst und übliches Privatleben ein. Nur selten mehr träumte er von den ihm unheimlichen Augen.
Geschah es aber, so erwachte er noch immer mit beschleunigtem Puls.
In der Reservationsverwaltung kamen unterdessen einige Veränderungen in Gang. Was Sligh dabei bedauerte, war der Abschied von Mr Hawley, der, wie es den Kollegen schien, unvorhergesehenerweise, ganz ohne sichtbaren Grund auf eine andere Reservation versetzt werden sollte, dies jedoch zum Anlass nahm, um aus dem Dienst zu scheiden. Auf der Ranch seiner Mutter war eine ergiebige Ölquelle entdeckt worden. Als künftiger Millionär war er nicht mehr darauf angewiesen, sich den wechselnden Entscheidungen eines Ministeriums zu unterwerfen.
Der Stellvertreter, Mr Nick Shaw, führte zunächst die Amtsgeschäfte. Ein Nachfolger stand also noch nicht bereit. Es schien erstaunlich, dass die Versetzung trotzdem hatte erfolgen sollen. Zwischen ihren vier Wänden munkelten die Beamten von weit zurückreichenden Zusammenhängen und den Vorwürfen mangelnder Energie.
Sligh schloss sich näher an den Verwaltungsdirektor des Hospitals an, der mit seinen Interessen für Autos und Whisky als ein jederzeit normaler Typ erschien.
Eines Tages hatte sich Sligh psychisch so weit erholt, dass er sah, ob eine Frau schön, reizvoll, kalt, reizlos oder abstoßend war. Er bemerkte seine wiedererwachte Fähigkeit scheinbar rein zufällig. Als er wie jeden Tag nach dem Lunch mit dem Wagen vom Haus zum Hospital fuhr, ging eine junge Frau in das Krankenhaus. Es war Besuchstag, und vielleicht wollte sie Angehörige aufsuchen. Die Sprechstunde der Säuglingspflege war zu dieser Stunde angesetzt, und vielleicht bedurfte die Besucherin dort eines Rates. Sligh überschlug nicht die einzelnen Möglichkeiten, die die Krankenhausordnung dieser jungen Frau an diesem Tag zu dieser Stunde gab, erlaubterweise das Krankenhaus zu betreten, auch wenn sie selbst gesund war. Er sah nur die Frau.
Sie war sicher nicht älter als Anfang zwanzig, noch schlank, obgleich sie vielleicht ein Kind erwartete, und sie bewegte sich mit Leichtigkeit und Grazie bei den einfachen Schritten, mit denen sie über den Kies ging, mit denen sie die fünf Stufen zu dem gepflasterten Vorplatz des Hospitals nahm, bei der einfachen Bewegung von Arm und Hand, mit der sie das Glasportal öffnete. Sligh hatte ihr Gesicht nur im Profil gesehen, während er selbst den Wagen verließ.
Wenn der Arzt das Wort Sexappeal denken wollte, so tat er es, nicht ohne die landläufige Empfindung eines Mannes von vierzig Jahren dabei zu entwickeln. Doch war diese Frau nicht aufreizend. Sie weckte angenehm opalfarbene Phantasien, reizte nicht auf, schlug daher auch keine Warnsignale des Gefühlslebens an; sie verwebte und bestrickte eher Empfindungen, ehe man es sich versah. Dennoch glaubte sich Sligh von ihrem Reiz durch einen unüberwindlichen Abstand gesichert. Sie war eine Indianerin. Gebändigte Wilde konnte in der Vorstellungswelt des Medical Doctor eine Bezeichnung für sie sein.
Sligh lächelte über sich selbst. War er siebzehn? Was nicht alles hatte er in wenigen Sekunden aus einem Profil und der Bewegung einer jungen Frau während weniger Schritte entnommen – Bewegung des Fußes in weichen Mokassins, Bewegung der Hüften, der Schultern.
Während seines Lächelns hatte Sligh seine Gangart aber schon beschleunigt und war zur gleichen Zeit wie die junge Frau in der großen Eingangshalle des Hospitals angekommen.
Er hörte ihre Stimme, eine im Klang gedämpfte Stimme, nach dem Chefarzt Dr. Sligh fragen. Tatsächlich, nicht nur die Säuglingsstation, auch Roger Sligh hatte um diese Zeit eine Sprechstunde angesetzt. Er begab sich ohne auffällige Eile, aber auch ohne Verzug zu seinem Zimmer und ließ wissen, dass er Besucher zu empfangen geneigt sei.
Die Frau trat ein und stellte sich vor. Mrs King stand vor dem Chefarzt.
»Womit darf ich Ihnen helfen?«
»Mit einer Auskunft, Doktor. Wie lange, glauben Sie, wird das Krankenlager meines Mannes, ich meine, die stationäre Behandlung, möglicherweise noch dauern?«
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