Steffen nickte zustimmend und griff zur Rippenschere, um den nächsten Schnitt in Angriff nehmen. Währendessen bewegten sich Angermüllers Augen unruhig hin und her, auf der Suche nach einer Ablenkung vom Geschehen auf dem Obduktionstisch. Sie blieben an der jungen Rechtsmedizinerin hängen, die mit interessierter Miene das Geschehen beobachtete, bereit, bei Bedarf einzugreifen.
Doch mehr noch als der Anblick auf dem Tisch war es vor allem das knirschende Geräusch der Schnitte, das Angermüller irritierte. Wie beim Tranchieren einer knusprig gebratenen Gans, ging es ihm durch den Kopf. Oh Gott, was für einen schrägen Gedanken hab ich da! Inständig sehnte der Kommissar das baldige Ende dieser schaurigen Vorführung herbei.
»So, Paul hat das Gehirn in Scheiben geschnitten. Die im Hirngewebe sichtbaren Kontusionsblutungen sind definitiv vital durch stumpfe Gewalteinwirkung entstanden. Mit anderen Worten steht fest, dass das Opfer durch Schläge gegen den Hinterkopf zu Tode gekommen ist und man mit der anschließenden Verbrennung versucht hat, sämtliche Spuren zu löschen.«
»Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«, wollte Staatsanwalt Lüthge wissen.
»Tut mir leid«, gab Steffen Auskunft, »durch die Hitzeeinwirkung werden Totenflecke auch an den abhängenden Körperpartien, die nicht verkohlt sind, hitzefixiert, und die eigentlichen Aufliegeflächen weisen ja keine Totenflecke auf. Temperaturmessung ergibt hier ebenfalls keinen Sinn. Klar ist nur, dass sie wohl mindestens seit gestern dort gelegen hat, denn der Leichnam war vom Regen in der Nacht von vorgestern auf gestern durchnässt.«
Erleichtert, dem Sektionsraum mit seiner schauerlichen Szenerie entkommen zu sein, standen Angermüller und Jansen mit Staatsanwalt Lüthge vorm Institut für Rechtsmedizin. Das Grau der vergangenen Tage hatte sich verzogen, es war ein klarer, sonniger Märztag. Immer noch wehte ein eisiger Wind. Bevor sich Lüthge verabschiedete, versprach er, sich schnellstmöglich um eine richterliche Anordnung für die Herausgabe der Daten des Herstellers der Brustimplantate und des Krankenhauses zu bemühen, das den Eingriff vorgenommen hatte. Sie alle hatten ein Interesse daran, möglichst frühzeitig die Identität des Opfers zu erfahren, die sie hoffentlich zu einem konkreten Ermittlungsansatz führen würde.
»Und jetzt fahren wir zum See und schauen, ob nicht jemand was von dem Feuer mitbekommen hat, oder, Claus?«
Jansen zeigte zum Einverständnis seinen hochgereckten Daumen.
»Aber vorher muss ich was essen, sonst kipp ich aus den Latschen. Hab heute Morgen nix gefrühstückt.«
»Mmh, ich hatte auch nur trockenes Knäckebrot zum Tee …«
Angermüller sah auf die Uhr. Ja, er war einem kleinen Imbiss nicht abgeneigt, aber seit der Obduktion hatte er den Kopf voller Fragen. Eine junge Frau um die 20, die an ihrem Körper Eingriffe zur vermeintlichen Optimierung hatte vornehmen lassen – was hatte sie sich davon erhofft? Schon im nächsten Jahr würden seine Töchter volljährig. Welche Wünsche würden sie sich erfüllen, wenn sie alles selbst entscheiden konnten? Was wohl war das Ziel der jungen Frau gewesen, die so abrupt aus dem Leben gerissen worden war, und für die es nun keine Träume, kein Ziel, keine Zukunft mehr gab.
»Wat is? Hast du etwa keinen Hunger?«, riss ihn Jansen aus seinen Grübeleien.
»Doch, doch. Lass uns mal über Niendorf fahren, so eilig haben wir’s ja nicht.«
»Also Fisch zum Frühstück is ja nich so meins«, brummelte Jansen, der die Vorlieben seines Kollegen kannte, »auch wenn ich ab und zu schon mal welchen esse.«
Das ewige Thema bei ihren gemeinsamen Mahlzeiten. Trotz einiger Lernfortschritte aufgrund der Küche seiner Freundin Anja-Lena und Angermüllers sanfter Versuche von Geschmackserziehung, bevorzugte Jansen nach wie vor Deftigkeiten mit Fleisch, gerne in Form von Burgern oder Currywurst.
»Ach, Claus, du kennst mich doch.«
»Eben drum.«
»Komm, ich bin doch immer kompromissbereit. Wenn du jetzt nicht gerade ein Frühstück mit Marmeladenbrötchen willst, kommst du bestimmt auf deine Kosten, das garantier ich dir.«
Die Kommissare sprachen nicht, während sie den Weg aus der Stadt nahmen. Sie durchquerten den Herrentunnel, tauchten wieder in die helle Sonne und verließen bei Travemünde die Bundesstraße. Durch kleine Ortschaften, vorbei an Feldern und Wiesen, rollten sie nach Norden. Die Bäume und Büsche am Straßenrand umgab ein zarter grüner Schein, der den Frühling ahnen ließ.
»Du sachst ja gar nix«, bemerkte Jansen, der, wie meist, den Wagen lenkte, »was geht dir denn so durch den Kopf?«
Jansen selbst war kein Schnacker und stolz darauf, doch die andauernde Schweigsamkeit seines Kollegen, der sich sonst gern austauschte, schien ihn heute zu irritieren.
»Findest du das eigentlich normal, dass eine so junge Person Brustimplantate trägt?«, fragte Angermüller statt einer Antwort.
»Tscha«, machte Jansen und kaute auf seiner Unterlippe, »hört man ja öfter, dass die Leute sich immer jünger unters Messer legen – und nicht nur die Mädels.«
»Ja, stimmt. Die folgen irgend so einem Körperoptimierungswahn, wollen absolut perfekt sein und lassen einfach korrigieren, was ihnen nicht gefällt. Und wahrscheinlich glauben sie auch noch, mit einer neuen Nase oder einem strafferen Po wären alle Probleme ihres Lebens gelöst.«
»Wenn dat man so einfach wäre. Die sollten uns mal fragen, was, Kollege?«
»Wieso, hast du Probleme?«
»Nee, nur Hunger.«
»Da können wir was gegen tun. Wir sind ja schon in Niendorf. Fahr da mal rein, wo ›Hundestrand‹ auf dem Schild steht«, wies Angermüller seinen Kollegen an und deutete auf die kleine Straße, die rechts abging.
»Na, satt geworden?«
»Gerade so«, grinste Jansen, »nee, war gut der Burger, aber hätte ruhig ’n büschen mehr sein können.«
Angermüller hatte eine Niendorfer Fischsuppe genossen und war damit sehr zufrieden. An dieser recht schlicht aufgemachten Bude, die er vor einiger Zeit entdeckt hatte, schmeckte es ihm besser als in manch einem chic hergerichteten Restaurant.
Sie machten sich auf den Weg zum See, wo sie in der Siedlung neben der Badeanstalt mit ihren Befragungen begannen, allerdings ohne Ergebnis. Wie der Zeuge am Vortag geschildert hatte, standen die meisten Häuser um diese Jahreszeit noch leer, und die wenigen Bewohner, die sie angetroffen hatten, bedauerten, nicht weiterhelfen zu können.
In der Hoffnung auf mehr Erfolg fuhren die Kommissare weiter nach Klingberg, das auf der anderen Seite des Sees lag. Zumindest in dem Teil des hübschen kleinen Ortes, wo die Häuser etwas erhöht an der Uferstraße lagen, hatte man einen freien Blick auf die Badeanstalt am Ufer gegenüber.
Auch hier schienen viele Anwesen nur als Feriendomizile genutzt zu werden und waren momentan unbewohnt. Überall, wo sie bisher die Bewohner angetroffen hatten, äußerte man Bedauern, nicht weiterhelfen zu können. Niemand hatte etwas von einem Feuer bemerkt.
Sie warteten vor der Tür einer kleinen Villa, die wohl aus den 1920ern stammte, und der eine gründliche Restaurierung gutgetan hätte. Das Haus stand auf einem weitläufigen Grundstück in einem etwas verwilderten Garten mit СКАЧАТЬ