Gegendiagnose II. Группа авторов
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Название: Gegendiagnose II

Автор: Группа авторов

Издательство: Автор

Жанр: Социальная психология

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isbn: 9783960428138

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СКАЧАТЬ Szasz beschrieb, dass der erste Schritt einer Diagnose erstmals der Einteilung in zwei verschiedene Klassen bedürfe: Klasse-A (›gesund‹) und nicht-Klasse-A (nicht-gesund) (vgl. ebd). Schon in diesem Schritt ergäben sich mögliche Fehlerquellen, die eine Diagnostik in diesem Bereich unmöglich mache:

      1.Die klassifizierende Person verfügt nicht über das nötige Wissen um eine ›richtige‹ Klassifikation durchzuführen (vgl. ebd.).

      2.Symptome eines Verhaltens sehen von außen betrachtet aus, wie eine bestimmte Klassifikation, sind aber eigentlich etwas anderes (vgl. ebd.: S. 52).

      3.Symptome werden bewusst vorgetäuscht, um eine bestimmte Klassifikation zu erhalten (vgl. ebd.).

      Dabei dürfe nicht vergessen werden, dass es bei dieser Form der Klassifikation, um eine Bewertung und Beurteilung von Verhalten durch außenstehende Personen geht. Eine Bewertung ist niemals ›objektiv‹, sondern findet auf Basis von Moral- und Wertvorstellungen statt (vgl. ebd.: S. 56). Klassifikationsmo-delle und Diagnosen entstünden somit immer unter spezifischen historischen und herrschaftsvollen Situationen und wären somit nicht als ein »natürliches‹ Ereignis« (ebd.) misszuverstehen. Somit ergibt sich insgesamt die Frage, warum von der Norm abweichendes Verhalten, überhaupt klassifiziert werden müsse (vgl. ebd.: S. 57) und zum anderen, warum sogenannte ›Professionelle‹ die Definitionsmacht über die Diagnose haben sollten.

      Stattdessen wäre es notwendig, Betroffenen mit ihrer subjektiven Sichtweise und ihren eigenen biographischen Erfahrungen und Deutungen die Definitionsmacht über ihren Seins-Zustand zuzugestehen (vgl. Laing 1994: S. 27). Anders als in medizinisch-psychiatrischen Modellen ist es in einem solchen Verständnis von psychosozialen Krisen nicht das Ziel ›wissenschaftlicher‹ oder ›objektiver‹ (ebd.: S. 37) zu sein, sondern sich einem Verständnis über den subjektiven Sinn und Zweck des Verhaltens anzunähern (vgl. ebd.). Aufgabe von Unterstützter_Innen ist es somit nicht, Betroffenen zu erklären, was sie zu tun hätten oder wie sie Dinge zu sehen hätten, sondern den Ausdruck des spezifischen »In-der-Welt-Seins« (ebd.: S. 39) nachzuvollziehen und je nach Wunsch Reflexions- oder Alltagsunterstützung zu bieten.

      Exkurs: Kritik an der Naturalisierung menschlichen Verhaltens

      Der vorher beschriebene gottähnliche Status der (Natur-)Wissenschaften (vgl. Lewontin et al. 1988: S. 40) zeigte sich auch darin, wie medizinisch-naturalistische Denkmodelle den Diskurs der Unterstützung dominierten und sich dies bis heute noch hält. Der Bezug auf eine angenommene Natur des Menschen wird genutzt, um gesellschaftliche Verhältnisse und individuelles Verhalten zu erklären. In diesem naturalistischen Erklärungsmodell wurde davon ausgegangen, dass sich »so unterschiedliche Phänomene wie die sexuelle Orientierung, psychische Probleme, Erfolg im Leben […] und die Gewalt auf den Straßen« (Rose 2000: S. 295) durch die einzelnen Gene der Individuen erklären ließen. Kritisch lässt sich einwenden, dass eine solche deterministische Betrachtung des Menschen grundlegende Aspekte außen vor lässt. Erstens lässt sich das menschliche Sein nicht alleine durch die biologische Materie begreifen. Der Mensch ist potenziell in der Lage auf seine eigenen Handlungen von außen zu schauen und diese an – in seiner individuellen Biographie erlernten – Werten und Normen zu messen (vgl. Mead 1968: S. 179). Durch diese Form der Selbstreflexion, kann ein Mensch das eigene Verhalten hinterfragen und verändern, zumindest innerhalb eines gesellschaftlich beeinflussten (aber nicht determinierten) und potentiell veränderbaren Möglichkeitsraumes (vgl. Leiprecht 2011: S. 39 f.). Der zweite grundlegende Denkfehler in der medizinisch-naturalistischen Theorie liegt in der Annahme, die menschliche Natur sei unveränderbar (vgl. Rose 2000: S. 9). Dabei sind sowohl die einzelnen Zellen, Körperstrukturen und Moleküle des menschlichen Körpers vergänglich, wodurch der Körper selbst einer sich ständig verändernden Dynamik unterliegt (vgl. ebd.: S. 55), als lebendige Systeme auch »definitionsgemäß offene Systeme« (vgl. ebd.: S. 112) sind und sich zum Überleben den umweltbedingten Schwankungen anpassen müssen (vgl. ebd.: S. 176).

      Das naturalistische Erklärungsmodell für das Verhalten von Menschen trägt einen gewissen Doppelcharakter in sich, welcher sich einerseits darin zeigt, dass Betroffene leicht als ›Opfer der eigenen Gene‹ gesehen werden (Rose 2000: S. 21). Damit einher geht sowohl eine Befreiung aus der Verantwortung für das eigene Handeln, als auch das Absprechen des Selbstbestimmungsrechtes über den eigenen Körper, das eigene Verhalten, das eigene Denken und Sein im Generellen. In einer zweiten Erscheinungsform zeigt er sich andererseits darin, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse als Natur gegeben beschrieben und der Mensch als ›Opfer der Umstände‹ betrachtet wird (vgl. Lewontin, Rose & Kamin 1988: S. 40). Dies impliziert die Vorstellung, dass die betroffene Person sich in ihrem Verhalten den Verhältnissen und den damit einhergehenden Erwartungen anzupassen habe. In beiden Fällen wird die Wechselwirkung von gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnissen mit den Handlungen und Denkmustern der betroffenen Person ignoriert und das spezifische Verhalten durch eine biochemische Dysfunktion erklärt (vgl. Rose 2000: S. 310).

      Die ›neue‹ psychiatriekritische Bewegung der 1970er & -80er Jahre

      In Deutschland manifestierte sich die ›alte Psychiatriekritik‹ anfangs in der sog. Psychiatrie-Enquete, dem Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland von 1975 (vgl. Deutscher Bundestag 1975). Dieser kritisierte neben einer schlechten Versorgungsstruktur (vgl. ebd.: S. 8 ff.), einer mangelnden Qualifikation der ›Professionellen‹ (vgl. ebd.: S. 9 ff.), auch die Struktur und Bausubstanz der Gebäude (vgl. ebd.: S. 11). Was sich leicht lesen lässt, bedeutete für die Betroffenen in erster Linie eine höhere Wahrscheinlichkeit auf Inhaftierung in einer geschlossenen Institution und die tägliche Gefahr in heruntergekommenen, überfüllten Schlafsälen der Willkür von Psychiater_Innen, Pfleger_Innen, Ärzt_Innen und Therapeut_Innen ausgesetzt gewesen zu sein. Die Psychiatrie-Enquete schaffte in der Praxis jedoch keine radikalen Veränderungen. Die vollzogenen Reformen ermöglichten im psychiatrischen System zwar die »Abkehr vom Konzept der Verwahrung und Ausschließung« (Trotha 2001: o.S.) der Betroffenen, jedoch ohne »die grundsätzlichen Positionen des psychiatrischen Diskurses in Frage stellen zu müssen« (ebd.). Hinzu kamen neue Entdeckungen im Bereich der Psychopharmaka, welche – im Zuge der ›Psychiatrie Reform‹ von Ärzt_Innen als Fortschritt gefeierten – zur Verschiebung von Behandlungsmethoden führte: Weniger direkte Gewalt durch die »mit Problem belasteten Elektro-, Kardiazol- und Insulinschocktherapie« (Häfner 2003: S. 124), mehr Gewalt durch teils unter Zwang verabreichten Psychopharmaka (vgl. Weigand 2015: 20 ff.).

      Auch bei der ›alten‹ Psychiatriekritik, welche mit ihrer Dekonstruktion und Entmystifizierung von psychosozialen Krisen neue Denk- und Handlungsmuster zur Unterstützung anbot, blieb die Kritik – wie auch in diesem Artikel – meistens bei einer akademischen Betrachtung und Umdeutung stehen.

      Jedoch begannen – durch den Einfluss der oben beschriebenen Kritiken gestützt – verschiedene Betroffenengruppen sich in Selbsthilfe- und Betroffenenverbänden zu organisieren. Dabei stand nun, wie auch in der ›alten‹ Psychiatriekritik weniger die Forschung an und über die Betroffenen und deren Verhalten im Vordergrund, sondern es wurden verstärkt die gesellschaftlichen Verhältnisse analysiert unter denen Menschen leiden können. Neu war nun vor allem die hierbei entstehende Selbstorganisierung von Betroffenen bzw. Patient_innen. Einige sahen in dem Verständnis, СКАЧАТЬ