Название: Sprachgewalt
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Издательство: Автор
Жанр: Социальная психология
isbn: 9783801270308
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Er könnte auch in, sagen wir mal, Bonn oder Berlin, London, Paris oder Washington DC aufgewachsen und trotzdem über das Wort verwirrt sein – und zum Teil aus einem ähnlichen Grund. Vor langer Zeit waren die Worte Populismus und Populist Begriffe, die politische Persönlichkeiten oder Gruppen gerne für sich in Anspruch nahmen. Zum Beispiel die People’s Party, die Volkspartei, die Ende der 1890er-Jahre in den Vereinigten Staaten gegründet wurde. Es handelte sich bei ihr um eine Basisbewegung von Bauern im Westen und Süden, die sich gegen die Banken und Eisenbahngesellschaften zur Wehr setzen wollten. Stolz nannten sie sich bei dem von ihren Gegnern geprägten Namen: »Populisten«.3 Die russischen Narodniki des 19. Jahrhunderts waren eine sozialistische Bewegung, die in den 1860er-Jahren versuchte, die Bauernschaft zum Sturz des Zaren aufzuwiegeln: Ihr Name bedeutet übersetzt »Populisten«.4 Wenn wir viel weiter in der Zeit zurückgehen, bis in die späte Römische Republik, finden wir zwei rivalisierende politische Fraktionen, die Optimaten gegen die Popularen: Die »Aristokraten« (oder »Besten«) gegen die »Populisten«. (Letztere suchte die Unterstützung der Bürgerlichen, aber beide Gruppen waren eher patrizisch als plebejisch.)5 All diese sind Fälle von Populisten mit einem großen »P«: Immer bezeichnete der Begriff die Politik einer bestimmten Partei oder Bewegung. Wenn Sie diese Politik unterstützten, haben Sie sich als Populist zu erkennen gegeben. Aber welcher Politiker würde sich heute noch in Europa oder den USA als Populist bezeichnen?6 »Populist« ist, wie »Rassist« – ein Etikett, das Menschen zwar anderen, aber nicht sich selbst anheften. Es wird pejorativ verwendet. Es ist wie eine Gesundheitswarnung: »Vorsicht Ansteckungsgefahr!«. Der vorherrschende Gebrauch des Wortes in der praktischen Politik heute ist eine Beleidigung. Und auf genau diesen Gebrauch von Populismus und Populist konzentriere ich mich hier im Weiteren.
Die Verschiebung von einer beschreibenden zu einer pejorativen Bedeutung ist ein Quell der Verwirrung, die diese beiden Wörter umgibt. Hinzu kommt, dass mit ihnen so frei umhergeworfen wird, als hätten sie wenig oder gar keinen Inhalt – das jedenfalls könnte man meinen. Jeder versteht, dass sie vage auf etwas Hässliches hindeuten, aber niemand ist sich ganz sicher, auf was. Trump wird als Populist (im pejorativen Sinne) bezeichnet. Das gilt auch für Bernie Sanders. Man fragt sich: Ist dies im einen Fall gerechtfertigt, im anderen aber nicht? Oder in keinem? Oder in beiden? Was ist die richtige Entscheidung? Wie können wir berechtigte Kritik von ungerechtfertigter Verleumdung unterscheiden? Wir suchen Kriterien. Wir wollen es wissen: Was bedeuten populistisch und Populismus genau? Das war vermutlich die Frage, die sich viele der Menschen stellten, als sie in Scharen auf die Website des Cambridge Dictionary gingen, Populismus in das Suchfeld eingaben und so zum Wort des Jahres machten.
Die erste Antwort auf die Frage ist, dass es keine Antwort gibt – nicht, wenn Genauigkeit unser Ziel ist. Einige Wörter haben eine Bedeutung, die klar und präzise ist, andere nicht. Populismus und populistisch nicht. Die zweite Antwort ist, dass es eine Antwort geben muss, vorausgesetzt, wir bestehen nicht auf Genauigkeit. Wären diese Wörter völlig bedeutungslos, würde das Humpty-Dumpty-Prinzip der Semantik gelten. »Wenn ich ein Wort verwende«, sagte Humpty Dumpty zu Alice, »bedeutet es genau das, was ich es bedeuten lasse und nichts anderes«.7 Aber das ist falsch, ja sogar gefährlich. In Wirklichkeit wählen wir unsere Worte, nicht ihre Bedeutung – auch wenn sie vage ist. Könnte jeder selbst über die Bedeutungen von Wörtern entscheiden, würde die Sprache verschwinden. Um es noch einmal zu wiederholen: Es muss also eine Antwort geben auf die Frage, was Populismus bedeutet.
Es gibt eine ganze Heimindustrie, die versucht, den Begriff Populismus zu definieren. Zu diesem Thema ist genügend Tinte verschüttet worden, um einen Öltanker darin schwimmen zu lassen. Auf einer bahnbrechenden Konferenz an der London School of Economics im Mai 1967 gelang es einer großen Versammlung angesehener Wissenschaftler nach langen Beratungen nicht, einen Konsens über den Begriff Populismus zu erzielen.8 Fünfzig Jahre später ist er unter Akademikern nach wie vor heftig umstritten. Aber es liegt in der Natur des wilden Tieres, dass es nicht gefangen werden kann: Manche Wörter – wie auch einige Politiker, und ich denke da nicht nur an Populisten – sind einfach zu schlüpfrig, um sie zu schnappen. Sie verändern ständig ihre Form und entwinden sich unserem Griff. Definitionen spielen eine Rolle, wenn es darum geht, das Wort Populismus zu vermessen. Aber um eine Definition geht es mir nicht, obwohl ich versuche, den Begriff zu erläutern. Lassen Sie mich das erklären.
Populismus heißt nicht immer alles oder nichts. Es gibt oft Grautöne, Fälle, wo in einer Rede oder Kampagne populistische Elemente vorkommen, die wir sonst nicht als populistisch bezeichnen würden. Aber es gibt auch Hardcore-Fälle: solche, die klar und eindeutig sind (Trump zum Beispiel). An die denke ich. Es gibt eine Vielzahl von Hardcore-Fällen, die übrigens nicht auf die rechte Seite des politischen Spektrums beschränkt sind. Aber es existiert ein gemeinsamer Rahmen oder eine gemeinsame Struktur, die man sich wie eine Brille vorstellen muss, durch die alle Hardcore-Populisten die Welt betrachten. Diesen Rahmen will ich hier in den Blick nehmen – die Struktur der Weltanschauung oder Denkweise des Hardcore-Populismus. Ich will versuchen, einen Maßstab zu finden, mit dem Leserinnen und Leser selbst beurteilen können, ob, in welchem Umfang und in welcher Hinsicht ein Politiker, eine Partei oder eine Kampagne populistisch ist oder nicht. Darüber wird es immer Streit geben. Ich kann den Streit nicht beilegen, will aber helfen ihn zu vereinfachen.
Obwohl es ein Fehler ist, sich zu sehr auf die Etymologie zu stützen, können die Wurzeln eines Wortes ein Hinweis auf seine Bedeutung sein. Beginnen wir also am Anfang: bei der Herkunft des Wortes. Der Begriff Populismus leitet sich vom lateinischen »populus«, Volk, ab, doch das sollten wir nicht zu wörtlich nehmen, denn »populär« hat den gleichen Ursprung, aber nicht die gleiche Bedeutung. Jemand, der populär ist, ist nicht unbedingt ein Populist (so wie jemand, der »säkular« ist, nicht unbedingt ein »Säkularist« ist) und umgekehrt. Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 gewann Hilary Clinton mit einem Vorsprung von fast drei Millionen Stimmen diese »Volksabstimmung«. Sie war eindeutig populärer als Trump, aber ihre Kampagne war nicht im Entferntesten populistisch. Die Tatsache, dass diese beiden Wörter ähnlich sind, ist eine weitere Quelle der Verwirrung, aber der Unterschied in der Bedeutung ist entscheidend. Populär zu sein bedeutet, die Menschen im Allgemeinen anzusprechen. Populist zu sein bedeutet, in irgendeiner Weise mit »dem Volk« verbunden zu sein: das Volk, im Unterschied zu den Menschen im Allgemeinen. Der bestimmte Artikel (»das«) markiert den Unterschied.
Was nicht heißen soll, dass immer dann, wenn der Ausdruck »das Volk« auftaucht, gleich der Populismus sein hässliches Haupt erhebt. Das Dokument, das mit den Worten »Wir, das Volk der Vereinigten Staaten« (die US-Verfassung) beginnt, ist kein populistischer Text; es ist ein demokratischer Text (wenn auch ein fehlerhafter demokratischer Text). Ralf Dahrendorf äußerte einmal den Verdacht: »Des einen Populismus ist des anderen Demokratie, und umgekehrt.«9 Dies, so bemerkte er, könne nicht einfach abgetan werden. Er hatte Recht, aber man kann es auch nicht gutheißen. Es muss eine Möglichkeit geben, die beiden voneinander zu trennen, zwischen populistisch und demokratisch zu unterscheiden, sonst gibt es ein (logisches und politisches) Chaos, sonst wird entweder »demokratisch« zu einem abwertenden Begriff, was absurd wäre, oder »populistisch« wird aufgewertet. Die grassierende Verwirrung um das Wort würde also noch größer.
Was hat es mit der Verwendung des Begriffs »das Volk« in der Präambel der US-Verfassung auf sich, dass sie nicht populistisch ist? Wer sind »die Menschen«? Wenn wir die Bände mit juristischen Kommentaren durchforsten, können wir grob sagen, dass »das Volk« in diesem Text die Bürger sind. Der Ausdruck bezeichnet die Gesamtheit der Individuen, die die Bürgerschaft als Ganzes ausmachen. Das Ganze, »das Volk« in dieser Wendung hier, ist die Summe seiner Teile. Im populistischen Sinne jedoch ist »das Volk« niemals das Ganze, ist es niemals inklusiv.
Aber selbst das ist nicht ganz eindeutig und endgültig. Denken Sie an den Slogan »die Macht dem Volk«, der in den 1960er-Jahren in den USA aufkam. »Das Volk« bezog sich auf die hoi polloi, das einfache Volk: Menschen, СКАЧАТЬ