Название: Sprachgewalt
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Издательство: Автор
Жанр: Социальная психология
isbn: 9783801270308
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Die Anhänger ethnisch-kultureller Nationalidentitäten warfen und werfen bis heute dem Verfassungspatriotismus vor, dass er »papiern«, kalt und blutleer sei. Sie ignorieren dabei, dass die Liebe zu einer freiheitlichen und gerechten Konstitution durchaus heiß empfunden werden kann; sie ignorieren aber auch, wie nützlich er inzwischen geworden ist, um Konflikte zu verschleiern und eigene Interessen zu verfolgen.
Tatsächlich ist die »partikulare Verfassungskultur« inzwischen in Deutschland so ausgeprägt, dass, anders als noch zu Zeiten Dolf Sternbergers, auch Liberale und Konservative bis sogar in die AfD hinein an ihr mitwirken, sogar Leitkultur-Positionen mit ihr kompatibel sein können. Von der Bundeskanzlerin lässt sich keine Äußerung finden, die zu ihr in Widerspruch stünde. Als Angela Merkel im November 2018, als der UN-Migrationspakt diskutiert wurde, im Bundestag den Multilateralismus zum Patriotismus erklärte – »Entweder man gehört zu denen, die glauben, sie können alles alleine lösen und müssen nur an sich denken. Das ist Nationalismus in reinster Form. Das ist kein Patriotismus. Denn Patriotismus ist, wenn man im deutschen Interesse auch andere mit einbezieht und Win-win-Situationen akzeptiert«16 – konnte sie das im Vertrauen darauf tun, dass das »deutsche Interesse« in verfassungspatriotischem Sinne nicht mehr als Interesse einer ethnisch-kulturellen Volks- und Schicksalsgemeinschaft verstanden wurde, sondern als das Interesse der durch das Grundgesetz liberaldemokratisch verfassten und in dieser Verfassung bewährten deutschen Staatsbürgernation.
Dolf Sternberger schrieb 1959 über das »Vaterland«, es »wäre eine Erlösung, wenn wir das Wort mit Ernst und ohne Scheu gebrauchen dürften«. Die Wortwahl ist heute anders, aber auch wenn kaum jemand bis auf die AfD und die CSU noch Vaterland sagt, ist der Patriotismus gerade in den letzten Jahren auch durch die Berufung auf den Verfassungspatriotismus vollständig rehabilitiert, von jeder Scheu und auch jeder Scham befreit, ja zu einer neuen Pflicht geworden. Kein*e Politiker*in, quer durch das Spektrum, kann es sich heute noch leisten, als unpatriotisch zu gelten. Die angeblich unpatriotische Geste, mit der Merkel 2013 auf der Siegesfeier der CDU nach der Bundestagswahl dem grinsenden Hermann Röhe das Deutschlandfähnchen aus der Hand nahm und wegwarf, hängt ihr bis heute nach, obwohl sie damit wohl nur eine Grenze zwischen Staat und Partei ziehen wollte.17 Es wird inzwischen wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Deutschlandfahne in jedem Kontext eine gute Sache ist, weil der Patriotismus ja an die Verfassung, an Freiheit, Recht und Ordnung geknüpft ist. Im Wort »Patriotismus« stecken aber immer noch die Vaterherrschaft, die Exklusion, die Unterwerfung und Unterdrückung ganz genauso drin wie im »Vaterland«, und weder die Verpflichtung auf die Verfassung noch die Versuche der Grünen, ihn durch unpräzise Heimatbegriffe zu besetzen, entkommen dieser Etymologie. Der Soziologe Stephan Lessenich ließ sich deshalb auf die Trennung von Nationalismus, Patriotismus und Verfassungspatriotismus gar nicht erst ein, als er 2018 den »linken Neonationalismus« als »eine der wenigen politischen Positionierungen, auf die sich Rot-Rot-Grün derzeit einigen zu können scheint«, diagnostizierte.18 Die patriotischen Anbiederungen und der Verrat an der internationalen beziehungsweise transnationalen Solidarität haben eine fatale Kontinuität auf der Seite der deutschen Linken, quer durchs 20. und 21. Jahrhundert, und leben jetzt wieder auf.
Jede Art von Patriotismus, auch der Verfassungspatriotismus, auch und gerade dann, wenn er sich ausschließlich von universellen Werten herleitet, muss sich fragen lassen, wie er zu einer Welt steht, in der immer mehr Menschen in »ihren« Nationalstaaten eben nicht aufgehoben sind, sondern durch verbrecherische, kleptokratische, genozidale Regierungen und Wirtschaftsorganisationen heimatlos gemacht, ins Exil gezwungen und in die Flucht getrieben werden; und in der sich alle Versuche des internationalen Staatensystems – am stärksten mit der Genfer Flüchtlingskonvention oder eben jüngst eher schwach mit dem UN-Migrationspakt – Flüchtlingen und Vertriebenen wieder zu einem Status zu verhelfen, der ihnen Menschenrechte gibt, heute das Scheitern eingestehen müssen. Wie kann der Verfassungspatriotismus es mit den universalen Werten, von denen er herkommt, vereinbaren, dass der Verfassungsstaat, auf den er sich fixiert, eben nicht mit allen anderen Staaten als Gleicher und Freier verkehrt, sondern schon in seiner Entstehung engstens mit dem Imperialismus verschwistert ist, wie Hannah Arendt und, unter vielen anderen, auch Achille Mbembe gezeigt haben? Um mit sich ins Reine zu kommen, müsste er sich erst einmal entkolonisieren und bei der Gelegenheit über seine Umbenennung nachdenken.
Die als Kind mit ihrer Familie aus Europa vertriebene politische Philosophin Judith Shklar hat ein Begriffsinstrumentarium entwickelt, um die Unterschiede und die Konflikte zwischen politischer Verpflichtung, politischer Loyalität, Bekenntnis, Treue und Gefolgschaft herauszuarbeiten.19 Im (Verfassungs-)Patriotismus werden Verpflichtung, Loyalität und Bekenntnis in einer Weise vermischt, die die Konflikte verschleiert und die Unterschiede verwischt. Loyalität als Bindung zu einer sozialen Gruppe ist affektiv und »durch die ganze Persönlichkeit des Handelnden motiviert«; Verpflichtung hingegen ist regelgeleitet, zum Beispiel beim Befolgen von Gesetzen; Bekenntnisse (commitments) beinhalten eine Wahl, einen Entschluss.20 Die für Shklar maßgebliche Frage ist, was passiert und wie sich die Konflikte entwickeln, wenn der Staat oder die Gruppe auf den »Pfad der Ungerechtigkeit« gerät und Mitglieder ins Exil treibt, ausstößt und verrät (durch politischen, aber auch durch ökonomischen Verrat). Shklar sieht die Staatenwelt heute nicht mehr im Stande, die Probleme des Exils zu lösen: »Die meisten Menschen fürchten nicht einfach das Exil in der Fremde; viele werden Exilanten in einer ewigen Vorhölle sein.«21 In dieser Situation wird die Stimme des Gewissens des Einzelnen wieder laut. Shklar vergleicht sie mit der Situation der Sklaverei in den USA: »Eine Ungerechtigkeit, so immens wie die Sklaverei, muss, zumal in einem ansonsten einigermaßen gerechten Staat, moralische Entrüstung hervorrufen. Und manche der Amerikaner, die entschlossen waren, die Sklaverei zu beenden, fanden sich in einer sonderbaren Situation wieder. Diejenigen unter ihnen, die meinten, dass die gesamte amerikanische Verfassung, nicht bloß einzelne Paragrafen, ein Dokument der Sklaverei sei, konnten keine Verpflichtung spüren, den Gesetzen überhaupt zu gehorchen.«22 Es entsteht ein moralisches Vakuum; diejenigen, die sich nicht damit abfinden wollen, sehen sich in das Böse verwickelt, was immer sie tun, und sind auch von den Opfern getrennt, weil selbst (noch) nicht ausgestoßen. Es bleibt ihnen nur noch »das Argument des reinen Gewissens« im »inneren Exil«, da sie »durch die Ungerechtigkeit, die sie um sich herum wahrnehmen, so vollkommen isoliert sind, dass alle ihre Loyalitäts- und Treuebande zusammen mit ihren politischen Verpflichtungen unterhöhlt wurden.«23
Das Grundgesetz enthält allerdings ein Grundrecht im Artikel 4, noch vor der Meinungsfreiheit, nur hinter der Menschenwürde, der Freiheit und Unverletzlichkeit der Person, und der Gleichheit vor dem Gesetz, das genau diese Erfahrung aus dem Nationalsozialismus zu beherzigen scheint: »(1) Die Freiheit des Glaubens, des GEWISSENS und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.« Der Verfassungsbuchstabe jedenfalls unterstützt die Einzelnen darin, angesichts des großen, auch von Deutschland mitverschuldeten Unrechts an den Grenzen, nicht ins innere Exil zu müssen. Ob die deutsche Verfassungskultur dieser immensen Herausforderung gewachsen ist, scheint noch nicht ausgemacht. Ein Mehrwert durch Patriotismus welcher Art auch immer ist jedenfalls nicht zu erkennen.
1Ives Bizeul: Nationalismus, Patriotismus und Loyalität zur offenen Republik, in: Politik und Zeitgeschichte, 1.2.2007, 21.12.2006, ‹https://www.bpb.de/apuz/30737/nationalismus-patriotismus-und-loyalitaet-zur-offenen-republik?p=all#fr-footnodeid_32›.
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